Die letzten Stunden vor meiner Gefangennahme waren noch recht turbulent. Auf einer Wiese nahe der niederländischen Grenze hatte unsere Gruppe in Schützenlöchern Stellung bezogen, wurde aber am 28. März von den vorrückenden britischen Truppen überholt und abgeschnitten. Außerdem war in einer Entfernung von etwa 300 Metern eine britische Panzereinheit vorgerückt. Als einige der Panzer in unsere Richtung fuhren, hatten wir Angst, dass sie uns in unseren Schützenlöchern entweder mit Flammenwerfern oder durch Überrollen und Schwenken zerstören und an Ort und Stelle begraben würden. Von beiden Möglichkeiten hatten wir schon von anderen Abteilungen gehört.
Wir waren 8 Mann, jeder in einem Schützenloch. Wir konnten uns durch Schreien verständigen. So saß jeder von uns und musste für sich selbst mit seinen schwierigen Gefühlen fertig werden. Wir waren keine wirklich erfahrenen Frontsoldaten, sondern hatten nur schnell die grundlegendsten Dinge gelernt. Wir hatten kein Benzin zum Fahren und waren in den letzten Tagen große Strecken marschiert. Und auch der eine deutsche Panzer, den wir zwei Tage zuvor gesehen hatten, musste wegen Treibstoffmangels zurückgelassen werden. Zwei von uns hatten noch eine Panzerabwehrwaffe. Würde man sie im Notfall einsetzen? Zum Glück für uns trat diese Situation nicht ein, die britischen Panzer wichen aus. Dafür wurden wir mit feindlicher Infanterie überschwemmt, von der eine Abteilung begann, unseren Sektor nach deutschen Soldaten zu durchkämmen.
Die beiden jungen englischen Soldaten, die auf mein Schützenloch zukamen, hatten mindestens genauso viel Sorge wie ich. Wir ließen unsere Waffen liegen und wurden gemeinsam auf eine Straße geführt, auf der erwartungsgemäß eine schier endlose Kolonne britischer Fahrzeuge darauf wartete, weiter vorzurücken. Wir waren zwar nur eine kleine Gruppe, aber es gab sehr viele weitere dieser kleinen Gruppen, die auf einem mit Stacheldraht umzäunten Stück Land zusammengeführt worden waren. Ein englischer Offizier rief mit Namen oder Nummer die verschiedenen deutschen Einheiten auf, die sich in unserem Sektor befanden. Sie kannten die genauen Informationen und waren auf uns vorbereitet. Für uns war es sehr deprimierend.
Ich wurde hier hineingeschoben, wieder mit anderen Kameraden unserer Einheit. Insgesamt waren wir wohl etwa 100 Mann. Am Abend bekamen wir noch mehr zu essen: Corned Beef, eine Dose, dazu eine Packung Kekse und Tee. Getrunken wurde aus dem unteren Teil der Corned-Beef-Dose. Wir befanden uns auf einer feuchten Wiese, die zum Liegen nicht geeignet war. Ich sehe noch vor mir den großen Kreis der schlafenden, stehenden Männer. Jeder legte seine verschränkten Arme auf den leicht gebeugten Rücken des Vordermannes. Keiner konnte umfallen, dafür waren es zu viele. Wir hatten unsere Müdigkeit sicher nicht ausgeschlafen, als sich der Kreis am frühen Morgen auflöste…
Eine Kolonne britischer Lastwagen brachte uns nach Zedelgem, einem kleinen Ort bei Brügge in Belgien, in ein riesiges Lager für Tausende von Gefangenen. Im Empfangszentrum am Eingang bekamen wir eine Wolldecke sowie eine Essschüssel, als wir unser neues Zuhause bezogen. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir auch etwas Stroh bekommen haben. Das Schlafen auf dem Betonboden war allerdings nicht sehr bequem und wir wurden nicht wirklich verwöhnt. Da es auch noch kalt war, bildeten wir kleine Schlafgruppen; das heißt, wir schliefen jeweils mit ein oder zwei anderen zusammen. Jeder hatte nur eine Decke, also legten wir eine Decke unter uns und deckten uns mit den restlichen Decken zu.
Das Hauptproblem war aber nicht das Schlafen, sondern die Verpflegung. Mittags wurde im Gebäude ein Kessel mit Suppe für jeweils 25 Mann angeliefert. Zum Servieren saßen wir dann im Kreis herum, um uns von der gerechten Verteilung zu überzeugen. Jeder erhielt eine halbe Schüssel voll mit einer dünnen Flüssigkeit, dazu zwei kleine oder mittelgroße Kartoffeln. Wir waren alle hungrig wie die Wölfe und aßen unsere Suppe innerhalb weniger Minuten komplett auf. Zum Abendessen gab es für jeden ein Viertel eines leicht gebackenen Quadrats Weißbrot, das man leicht falten und zu einer Scheibe zusammendrücken konnte, und dazu gab es Tee, sonst nichts. Das Brot war natürlich auch in wenigen Minuten gegessen und vergessen.
Wir wurden allmählich so, dass wir nicht mehr schnell aufstehen konnten, ohne dass uns schwindlig wurde. Von Zeit zu Zeit wurden einige Facharbeiter angefordert. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass bekannt wurde, dass Bäcker benötigt würden. Mein Kumpel, mit dem ich damals zusammen war, hatte irgendwann auch Bäcker gelernt. Er überraschte mich mit seinem freudigen Ausruf: „Da gehen wir zusammen hin!“. „Bist du verrückt?“ Ich antwortete: „Ich habe noch nicht einmal eine Bäckerei von innen gesehen!“, aber er sagte: „Das schaffen wir schon.“
An den folgenden Tagen lernte ich vormittags, nachmittags und abends solche Themen wie Sauerteig usw. Für mich war es sicher ein Glück, dass daraus nichts wurde; aber für den Anfang ist es bezeichnend, dass ich schon auf der Liste als Bäckerlehrling stand.
Ende April wurde bekannt gegeben, dass das gesamte ehemalige fliegende Personal und die Marine nach England verlegt werden sollten. Offiziell gehörte ich tatsächlich noch zum fliegenden Personal, wie die Flügel am Unterarm meiner Uniform zeigten. An dem Abend, an dem wir mit einem Truppenschiff hätten auslaufen sollen, herrschte ein so starker Sturm, daß die gesamte Schiffahrt auf dem Kanal eingestellt wurde. Kurz nach Mitternacht – der Sturm hatte sich etwas gelegt – legten wir trotzdem ab.Ganz vorne, an der Gangway, über die wir auf das Schiff marschiert waren, am befestigten, nun schräg ansteigenden Bug, standen die Toiletteneimer. Ich saß, oder hockte, fast mittschiffs. Man sagte sich, dass es auf einem schlingernden Schiff vorne wirklich furchtbar ist. Ich bemerkte auch, dass kaum einer von denen, die dorthin wollten oder mussten, zu uns zurückkam. Da wir viele Stunden unterwegs waren, mußte ich schließlich auch nach vorne gehen. Es war wirklich schrecklich: das auf- und abschwankende Schiff in schwerer See, der Anblick der Unglücklichen, die es nicht geschafft hatten, zurückzukehren, und der entsetzliche Gestank. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Mit großer Willensanstrengung gelang es mir noch, zurück zu taumeln. Ich kehrte nicht an meinen alten Platz zurück. Auf halber Strecke lag ich auf dem Unterdeck. In der Zwischenzeit waren die Luken auf dem Oberdeck geöffnet worden. Die frische Luft brachte etwas Erleichterung und ich erholte mich wieder.
Es muss wohl am frühen Vormittag gewesen sein, als wir an der Themsemündung ankamen, um die Tilbury Docks zu erreichen. Nun durften wir an Deck gehen, bzw. kriechen. Was für ein Bild! Die Decks der Schiffe um uns herum waren voll von hungrigen, etwas ungepflegt aussehenden Gestalten, mit kreidebleichen Gesichtern, die im kalten Morgenwind froren. Nicht weit vom Pier entfernt wartete ein Zug, der uns zum Londoner Auffanglager am Kempton Park, der großen Pferderennbahn, brachte. Auf dem Gelände um die Rennbahn standen viele Zelte für die Neuankömmlinge vom europäischen Kontinent. Da es im Zug wieder Corned Beef und Kekse gab, gingen wir im Camp zum ersten Mal zu den Duschen. In den Duschen gab es richtige schäumende Seife; Seife, wie wir sie noch aus der Zeit vor dem Krieg kannten. Sie war frisch und noch nicht ausgetrocknet. Vor den Duschen waren wir registriert worden und hatten jeder einen englischen Armeesack, eine künstlich gefärbte englische Uniform (mit großen verschiedenfarbigen Markierungen, jeweils auf dem Rücken der Bluse und auf den Hosenbeinen aufgenäht) sowie Unterwäsche erhalten.
Nach dem Duschen zogen wir unsere frische Unterwäsche und die neuen Uniformen an und packten die alten, inzwischen gereinigten, in den Seesack. Wir fühlten uns plötzlich wieder wie Menschen, ein angenehmes, lange vermisstes Gefühl. Fast hätten wir die vergangene Woche schon vergessen können, wenn wir nicht trotz Corned Beef und Keksen nach dem überanstrengenden und ermüdenden Duschen einen Riesenhunger gehabt hätten.Man sagte sich, dass es eine warme Mahlzeit geben würde. Es war schön. Wir trugen erst einmal unsere Sachen zu den zugewiesenen Zelten und gingen dann zu einer Hütte, vor der sich eine große Traube von Männern an die schmale Tür drängte. Hier, so hieß es, wurde warmes Essen ausgegeben. Es kamen aber immer nur kleine Gruppen von fünf oder sechs Personen auf einmal heraus und eine entsprechende Anzahl wurde dann auch hineingelassen. Der einzige Grund für die langsame Bedienung war der nicht übermäßig große Speisesaal. Wir fanden einen Platz. Auf den Tischen standen Terrinen mit heißer Suppe, in der sich neben Gemüse und Kartoffeln auch viel Fleisch befand. Diese Terrinen wurden regelmäßig nachgefüllt. Wir bekamen Messer und Löffel und konnten essen, bis wir satt waren. Es war dort ganz, ganz zufriedenstellend.
Am nächsten Morgen wurden wir in Gruppen eingeteilt, die von Kempton Park aus zu Lagern in verschiedenen Teilen Südenglands gebracht werden sollten. Zu meiner Gruppe gehörten noch etwa zwanzig. Am späten Vormittag fuhren wir in Armee-LKWs in östlicher Richtung, ausgehend von einer stehenden Position, die die Sonne ausblendete. Die Landschaft war leicht hügelig und wurde immer einsamer. Irgendwann zweigte unser LKW von der Kolonne ab; wir fuhren nun entlang einer Hügelkette. Plötzlich bogen wir von der Straße ab und hielten knapp 20 Meter vor einem großen Tor. Wir waren im Springhill Camp in den nördlichen Cotswolds angekommen. Vor uns lag ein großes Gelände mit etwa 30 Hütten. Hier sollte ich die nächsten eineinhalb Jahre verbringen.
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