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Die Operation Gomorra Die roten Nächte der tausend Steine

Es scheint mir angebracht, zu Beginn ein paar einleitende Erklärungen zu geben. Natürlich ist mir und wahrscheinlich auch vielen anderen Deutschen klar, dass anderen Völkern unter dem Hitler-Regime furchtbare Schrecken widerfahren sind. Niemand kann sich davon völlig freisprechen. Was aber in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 über Hamburg hereinbrach, war in seiner Art einmalig: Die Bombardierung der Hamburger Bevölkerung war von langer Hand geplant und in ihren monströsen Folgen unvorhersehbar.1)

Der Zeitpunkt der Luftschutzwarnung in der Nacht des schrecklichen Feuersturms in Hamburg war 23:40 Uhr. Ein heißer Orkansturm fegte durch Hamburg und zerstörte Straßen und schleuderte alles, was nicht genietet oder genagelt war, durch die Luft…verkohlte Holzstücke, zerfetzte Kleidungsstücke, verbranntes Papier und Laub. Die Sonne war nicht zu sehen und ein 7 km hoher schwarzer Rauchpilz stand über der Stadt. Es war der 28. Juli 1943, der Tag, nachdem ein kolossaler Feuersturm durch die Straßen gewütet hatte, ein Feuersturm, wie ihn keine andere deutsche Stadt während des Krieges je erlebt hatte. Die Luftgeschwindigkeit über den Häusern betrug zeitweise 45m/sec, in 7 km Höhe waren es 60m/sec. In den Straßen, durch die der Feuersturm tobte, bogen sich die Wipfel der Bäume fast bis zum Boden. Dort tobte ein Orkan von extremer Wucht. Am Berliner Tor in der Wallstraße wurden Bäume mit einem Durchmesser von 30 cm einfach entwurzelt, und in anderen Straßen hatten die entwurzelten Bäume einen Durchmesser von fast 50 cm. Es wütete wie eine Art Windwirbel durch viele Straßen, und die Menschen, die dort hineinliefen, wurden im Nu verbrannt wie in einem glühenden Schmelzofen. Es blieb entweder ein kleines Häufchen Asche übrig oder man fand eine schwarze mumifizierte Gestalt, viel mehr blieb nicht übrig. Im Zentrum des Feuersturms wurde eine Temperatur von 800° C. gemessen. 2)

Das Bombardement begann für uns Hamburger mit all seinem Schrecken. Es gab Nächte, in denen wir uns gar nicht ausziehen konnten, da wir zwei- oder dreimal in den Luftschutzkeller gehen mussten. Der Koffer mit den wichtigen Papieren und den nötigsten Habseligkeiten blieb jedenfalls unten im Keller. An Schlafen war in solchen Nächten nicht zu denken, trotz der im Schutzraum aufgestellten Betten. Trotzdem war für viele, auch für mich, der nächste Tag ein Arbeitstag und wir mussten wieder zur Arbeit gehen. Jahrelang war unser Leben sicherlich von der Angst geprägt, von einer Bombe getroffen zu werden, von der Angst, auf etwas zu warten, das von oben kommen könnte. Trotzdem ging das Leben weiter, so gut es eben ging. Es gab noch Kinos, Konzerte und Theater, und niemand ahnte damals, dass im Sommer 1943 eine furchtbare Katastrophe über uns hereinbrechen würde. Sie war so entsetzlich und einzigartig, dass wohl niemand, der sie überlebt hat, auch nach 50 Jahren dieses Inferno je vergessen wird. Es gibt auch heute noch viele Menschen, die nicht darüber sprechen können, so schrecklich war das Erlebnis.

1942, nachdem ich bei meiner Firma gekündigt hatte, begann ich als Sachbearbeiter im Kommissionsdienst in der Brinkman-Kaserne in Wentorf bei Hamburg. Da ich noch ledig war, musste ich mir, wie andere unverheiratete junge Mädchen, eine Beschäftigung als Wehrmachtshelferin suchen. Zu diesem Zweck verbrachte ich einige Ausbildungsstunden beim 10. Generalkommando. Wir sollten mit einer Einheit nach Oslo und später nach Narvik transportiert werden. Es war mir klar, dass kaum eine dieser Unternehmungen stattfinden würde. Es herrschte Krieg mit Norwegen und im Atlantik tobte der U-Boot-Krieg. Dabei hatte ich noch Glück. Zu dieser Zeit traf ich einen Freund wieder, mit dem ich schon seit unserer Zeit in den vier Jahren, in denen wir zusammen in einem Jugendorchester spielten, bekannt war. Meine Schwester und ich gingen in das „Haus Vaterland“ zu einem Tanz (mit Varieté). Wie es der Zufall so wollte, kam es zu einem Treffen und der Absicht „sich kennenzulernen“ und zu einer baldigen Verlobung und nach kurzer Zeit zu einer Heirat. Dadurch blieb mir die Versetzung mit der Wehrmacht nach Norwegen erspart.

Im Februar 1943 wurde unser erster Sohn Harald geboren. Leider erlebte er oft die häufigen Luftangriffe. Jedes Mal mussten wir den Kleinen im Kinderwagen aus dem zweiten Stock in den Luftschutzkeller transportieren. Wir waren noch sehr jung und das hat uns nicht gestört. Aber in der Nacht des schrecklichen Feuersturms war der Kinderwagen vermutlich die Rettung für das Baby! Ohne diese „Umhüllung“ für ein kleines Baby von 5 Monaten wäre unser Ältester heute nicht mehr am Leben.Um 23:40 Uhr in der Nacht des 27. Juli 1943 begann der Luftangriff, bekannt als Operation „Gomorra“. Es war der 142. Luftangriff. Luftangriff. Die Sirenen heulten, und kein Hamburger konnte in diesem Moment ahnen, welche Katastrophe ihn erwartete… Mein Vater war damals Kassenführer des NS-Wohlfahrtsverbandes und für die Abrechnung der Gelder aus Straßensammlungen zuständig. Außerdem war er bei Fliegeralarm für den Telefondienst in der Verwaltungsstelle in der Bankstraße zuständig. In der Bankstraße gab es zu dieser Zeit fast nur große, solide 4-stöckige Häuser. Die Bankstraße verlief parallel zur Danielstraße, in der wir bei meinen Eltern eine 2-Zimmer-Wohnung hatten, mit separaten Eingängen. Die Danielstraße gibt es nicht mehr; sie war nach dem Krieg um 6m erhöht worden…wie der gesamte Südhammerbrook.

Mein Vater blieb noch etwa eine Stunde mit uns im Luftschutzkeller, aber er hatte ein ungutes Gefühl und wollte seine „Pflicht“ nicht verletzen. Nachdem das Bombardement der britischen Flugzeuge nachgelassen hatte, ging mein Vater doch noch in die Banksstraße (er musste auch mal in den Rinnstein kriechen). Wir werden ihn nie wieder sehen! Unsere Eltern hatten gerade am 20. Juli, eine Woche vor dem Feuersturm, ihre Silberhochzeit gefeiert. Alle Blumen, hauptsächlich Rosen, schwammen in der Badewanne, die mit Wasser gefüllt war. Schon viele Wochen vor dem Feuersturm hatten wir eine furchtbare Hitzewelle ohne nennenswerten Niederschlag gehabt. Die Ratten tummelten sich in den ausgetrockneten Kanälen!Bis jetzt hatten wir das Fallen der Bomben rundherum, das Dröhnen der einschlagenden Bomben und das Zittern der Wände und der Böden überlebt. Jeder, der so etwas erlebt hatte, kannte die Merkmale einer herunterpfeifenden Bombe: Wann immer ein Mensch ein „Singen“ oder „Pfeifen“ hört, ist es egal, ob er sich in einem Keller oder in einem Wohnzimmer befindet, der Einschlag der Bombe ist in einiger Entfernung. Traurig wird es aber, wenn der Luftdruckknall wahrnehmbar ist (ganz unangenehm); dann fallen die Bomben direkt in der Nähe! Man hört kein Dröhnen, nichts! Nur diesen furchtbaren Luftdruckstoß; wie oft haben wir das erlebt!Zuerst bekamen wir nur etwas von dem furchtbaren Feuersturm ab ca. 2 Uhr mit, von dem wir im Luftschutzkeller des kleinen Hauses umgeben waren. Panik machte sich breit, als der Sauerstoff knapp wurde.

Das Licht brannte schon nicht mehr, die Kerzen als Notbeleuchtung hatten nicht mehr genug Luft zum Brennen, und es wurde unerträglich heiß. Mein kleines Baby wurde in seinem Kinderwagen mit einer nassen Wolldecke zugedeckt, damit es nicht erstickte. Gott sei Dank hatten wir noch einen Krug mit Wasser. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich hatte der Teufel von mir Besitz ergriffen…ich wollte noch einmal in unser Haus gehen! Vielleicht, dachte ich, könnte ich noch einige Dinge herausholen, wie Papiere, Fotos und solche Dinge. Aber als ich im Flur stand, knisterte schon die Decke, und ich wollte zum Schreibtisch meines Vaters im Wohnzimmer gehen, aber dort sah ich nur Feuer. Die lodernden und brennenden Vorhänge flogen in den Raum, die Fensterscheiben barsten und es zischte und krachte überall um mich herum. Die wenigen Schritte zum Schreibtisch, der am Fenster stand, konnte ich nicht bewältigen, meine Beine fühlten sich wie gelähmt an. Während ich aus der Wohnung stürmte, hatte ich nicht einmal einen Artikel aus dem Kleiderschrank geholt. Ich war in einer solchen Panik, dass ich so schnell wie möglich in den Schutzraum eilte. Die Straßen brannten bereits, der Feuersturm tobte nun durch alle Straßen! Wir erreichten gerade noch die Tür des Luftschutzkellers. In diesem Moment schnappte etwas in einem Nachbarn auf und, von Panik ergriffen, nahm er seine Bettdecke und wollte hinaus. Keiner von uns konnte ihn aufhalten. Wir sahen ihn noch, aber nur noch als lebende Fackel, vom Feuersturm getragen, durch die Luft fliegen“. Wir waren alle zutiefst schockiert darüber.Unsere Situation war zu diesem Zeitpunkt fast aussichtslos. Wir waren von Feuer umgeben und würden wahrscheinlich an Unterkühlung oder Kohlenmonoxidvergiftung sterben. Allmählich machte sich Verzweiflung in uns breit, und wir mussten über unsere Lage nachdenken. Abgesehen von dem Feuersturm, der von Brandbomben, Phosphor und Flüssigkeitskanistern ausging, und dem Orkan, der durch die Straßen tobte, stand gegenüber unserem Wohnhaus ein großer Holzbetrieb, der in der Feuerhölle für zusätzliche Gewalt sorgen würde. Es war eine Tatsache, dass dahinter der Kammer-Kanal lag, aber wie sollten wir den erreichen? Oder auf die andere Seite, auf die Straße namens Stadtdeich und die Oberelbe? Das war in diesem Moment eine Fata Morgana! Im letzten Moment kam ein Nachbar auf die Idee, einen lebensrettenden Ausbruch durch die halb versteinerte Mauer zu versuchen. Mein Mann erinnerte sich an eine spitze Spitzhacke, die in einer Ecke stand. Und das war unsere Rettung! Die Männer hämmerten ein Stück der Mauer heraus und wir testeten, ob der Kinderwagen durchpasst – und das tat er! Wir kamen am Stadtdeich heraus, aber in eine donnernde, lodernde Hölle. Die Straßen brannten, die Bäume brannten und ihre Wipfel bogen sich bis auf die Straße hinunter, brennende Pferde aus dem „Hertz“-Fuhrbetrieb liefen an uns vorbei, die Luft brannte, einfach alles brannte!

Der Wirbelsturm war so stark, dass wir kaum atmen konnten, und ich weiß noch heute, dass ich meiner Mutter zubrüllte: „Fall nicht hinunter!“ Unser Ziel war der Hafenschuppen an der Elbe, eine Entfernung von einigen hundert Metern. Wir erreichten ihn und warteten dort bis zum Morgen. Oben, auf dem Boden des Schuppens, brannten riesige Rollen Zeitungspapier, aber die Männer konnten sie löschen. Danach, gegen Morgen, ließ das Tosen des Feuersturms nach, und einige Männer wagten sich auf die Straße und fanden in der Danielstraße, wo ein einziges Haus stand, eine Sektkellerei(!), und brachten uns eine Flasche. Infolge der Hitze hatten wir einen unglaublichen Durst! Zum Glück konnte ich meinen Kleinen stillen, und ich hatte auch eine Flasche Milchnahrung und Baby-Unterwäsche unter der Matratze des Kinderwagens versteckt.Da der Feuersturm fast eine Stunde nach dem Alarm begann, wütete er etwa zwei bis drei Stunden lang, zwischen 1 Uhr und 4 Uhr morgens, durch die Straßen Hamburgs. Zwischen 4 und 5 Uhr morgens flaute er ab. Am folgenden Tag war der Himmel bis in den späten Abend schwarz. Hamburg war bis zu einer Höhe von 7 km mit einer schwarzen Rauchwolke bedeckt.

Gegen Morgen, als der Sturm nachließ, wagte ich mich mit einigen Frauen ein paar Meter hinaus auf die Straße, aber von „frische Luft schnappen“ konnte keine Rede sein. Überall brannten Häuser, selbst auf den Straßen war es unerträglich heiß! Trotzdem mussten wir weg von hier, und wohin, das war egal. In diesem Moment wurden wir Zeuge einer schrecklichen Sache: Wir schauten auf unsere Straße, die Danielstraße, die parallel zum Stadtdeich verlief und an der sogenannten „Sonnenburg“ endete, einer Straßenfront mit großen Balkonen und einem großen Restaurant im Erdgeschoss. Etwa 10 bis 15 Personen kamen aus der Ausgangstür, beladen mit Hausrat, Matratzen, Decken und so weiter. Genau in dem Moment, als sie ins Freie traten und fast in Sicherheit waren, stürzte die große, vier Stockwerke hohe Hausecke ein und begrub sie alle unter sich! Das ist ein Anblick, den ich nie vergessen werde!

Nichts war wichtiger, als wegzukommen: zum Wasser auf der Oberelbe am Stadtdeich, dann zur Anlegestelle für den Raddampfer aus Basedow. Die Elbe war übersät mit unzähligen Wrackteilen, aber kein Dampfer kam. Große Leichter, große offene Schiffe wie Lastkähne, kamen, und das war unsere Rettung! Und die Menschen kamen zu Hunderten aus Hammerbrook aus ,allen Richtungen, verbrannt, verwundet, hauptsächlich Frauen mit Kindern. Während wir noch darauf warteten, dass sich ein Feuerzeug füllte, kam ein Flugzeug und feuerte auf uns. Wir hatten Glück, denn der Angriff richtete sich auf einen Transportzug, der auf der nahen Elbbrücke unterwegs war, wahrscheinlich ein Truppenzug oder ein Gefangenenzug. Die Hälfte des Zuges stürzte in die Elbe!

Der Leichter sollte nach Lauenburg fahren, und was sich auf der Fahrt an Bord abspielte, ist kaum zu beschreiben. Es gab kein Verbandsmaterial, nur Papierbinden. Ich half einer jungen Mutter, ihr halb verbranntes Baby mit meiner behelfsmäßigen Mullwindel zu verbinden. Mehr konnten wir nicht tun. Sie kam aus dem dichtesten Hammerbrook-Hof und hatte beim Weglaufen ihre 5-jährige Tochter verloren, die von Trümmern lebendig begraben worden war. Die Frau und auch die anderen befanden sich alle in einem Schockzustand. Wir blickten noch einmal zurück auf unser kaputtes und geliebtes Hamburg, über dem sich ein riesiger Atompilz ausbreitete, als wolle er sagen: Ich werde das ganze Grauen, das heute Nacht über Hamburg hereingebrochen ist, für immer zudecken! Es fällt mir immer noch nicht leicht, von diesem furchtbaren Ereignis zu erzählen, und doch befreit es mich in gewisser Weise von einer Last, die ich schon seit 50 Jahren mit mir herumtrage.

Das Zentrum des Feuersturms lag nun nur noch wenige hundert Meter von unserem zerstörten Stadtteil entfernt; etwa im Bereich Süderstraße/Grevenweg/Ausschlägerweg (meine alte Schule!). Es wurde geschätzt, dass in dieser einen Nacht 41.800 Menschen starben. Die Zahl der angreifenden britischen Flugzeuge betrug etwa 790. (Die Amerikaner griffen meist tagsüber an). Etwa 2230 hochexplosive Bomben und 325.000 Brandbomben wurden abgeworfen. Erst Anfang Oktober waren alle Brände endgültig gelöscht. Der gesamte Bereich Hammerbrook, einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile Hamburgs, war zum Sperrgebiet erklärt worden. Mehr als 90% von Hammerbrook war zerstört.

Unser Feuerzeug kam irgendwann in Lauenburg an und der ganze Steg und die Umgebung roch nach verbrannten Menschen; es war schrecklich! Die Lauenburger Bürger halfen aufopferungsvoll und nahmen Hunderte von verzweifelten Menschen auf. Wir wurden von einem netten Ehepaar aufgenommen, und zum ersten Mal konnten wir uns ausruhen und uns um mein Baby kümmern. Die Frau hat extra eine Torte gebacken, denn am nächsten Tag hatte ich Geburtstag… ich würde 24 Jahre alt werden. Leider konnte ich nichts davon bei mir behalten und als ich mich erbrechen musste, stand fest, dass ich wieder schwanger war. In dieser Situation eine niederschmetternde Erkenntnis! Bis heute weiß ich nicht, welcher Teufel mich besessen hat, ausgerechnet am nächsten Tag, meinem Geburtstag, dem 29. Juli, kehrte ich noch einmal in das ramponierte Hamburg zurück, um meinen Vater zu besuchen. Meine Mutter war mit Wäsche waschen beschäftigt, denn alles roch nach Rauch, und mein kleines Baby musste auch versorgt werden. Mein Mann konnte nicht mehr in seine Schuhe steigen, denn seine Fersen waren beim Löschen des Feuers in dem Loch, durch das wir gerettet worden waren, von Phosphor verbrannt worden.So machte ich mich allein auf den Weg und fuhr mit einem Feuerzeug nach Hamburg bis zum Stadtdeich. Und dann ging meine Suche los. Zuerst ging ich zurDanielstraße.Alles, wirklich alles, war eine einzige Trümmerlandschaft. Man konnte die Sonne nicht erkennen, der riesige Rauchpilz verdunkelte noch den Himmel, es war eine unheimliche Stille; fast gespenstisch. Und es war heiß, die Hitze kam aus den Kellern, ausgebrannten Häusern und aus höhlenartigen Löchern, wo Fenster gewesen waren. Es wäre viel besser gewesen, wieder umzudrehen.

Ich stand vor den Trümmern unserer abgebrannten Häuser, dann wagte ich mich in den Luftschutzkeller. Seltsamerweise war die schwere eiserne Pralltür offen, die Tür, die wir in jener schrecklichen Nacht nicht aufbekommen hatten und die uns fast zum Verhängnis geworden wäre. Ich warf einen Blick in den kleinen Raum und mir standen die Nackenhaare zu Berge. Komplette hölzerne Stützpfeiler waren zu einem kleinen Haufen Asche verbrannt. Nicht durch Feuer, sondern durch die abnorme Hitze! Keiner von uns hätte diese Hitze überleben können, alle wären durch Kohlenmonoxid oder Unterkühlung zu Tode gekommen. Nach dieser schockierenden Erkenntnis machte ich mich auf den Weg zur Banksstraße, die parallel zur Danielstraße verlief. An der Ecke Amsinckstraße/Lippeltstraße traf ich zufällig einen Kollegen meines Vaters; für mich war das wie ein Wunder. Er gab mir wieder etwas Hoffnung; es bedeutete, dass außer ihm noch einige andere aus dem Luftschutzkeller gekommen waren und zur Moorweide, dem großen Sammelplatz für Ausgebombte am Dammtorbahnhof, gegangen waren. Also, weg war ich! Doch was mir so leicht erschien, war ein absoluter Horror. Schon auf der Banksstraße wurde mir ängstlich bewußt, daß der heiße Sturm noch immer leichtes Holz und Papier und andere Dinge durch die Luft blies.

Mitten auf der Straße stand ein verbranntes Feuerwehrauto, und am Bordstein lagen die verkohlten, unkenntlichen, geschrumpften Überreste von Menschen…es war schrecklich! Zum zweiten Mal in meinem Leben rettete mich ein glücklicher Zufall aus einer ähnlichen Situation. Ich ging auf die rechte Seite der Straße, den Bahndamm entlang. Im gleichen Moment stürzte das vierstöckige Gebäude, in dem unser Hausarzt, Dr. Reuter, seine Praxis hatte, mit gewaltigem Getöse bis zur Straßenmitte ein. Wäre ich auf der linken Straßenseite gegangen, hätten mich meine Verwandten nie mehr gefunden. Niemand weiß, wie viele Leichen oder Leichenteile unter diesem Gebiet liegen, zumal hier nach dem Krieg ein 6 m hoher Trümmerhaufen abgelagert wurde. Hammerbrook war wochenlang ein Sperrgebiet. Diesen Schrecken musste ich erst einmal verdauen; meine Knie wurden ganz schwach und es wurde schwierig, weiterzugehen. Und doch schaffte ich es bis zur Mönckebergstraße, Hamburgs Hauptgeschäftsstraße im Zentrum der Stadt. Überall waren Ruinen und Verzweiflung, umherirrende Menschen; es war ein deprimierender Anblick. Auf der Höhe des Karstadt-Kaufhauses musste ich eine Pause einlegen; weiter ging die Straße ohnehin nicht, denn mitten auf der Fahrbahn klaffte ein riesiger Bombenkrater.

So setzte ich mich erschöpft auf die Stufe eines Ladens, oder was von dem Laden übrig war, und musste weinen. Ja, die Tränen liefen mir über die Wangen…so sieht unsere ehemals schöne Stadt Hamburg aus! Diese Erkenntnis war so schmerzhaft, so hoffnungslos, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, jemals wieder durch schöne, anständige Straßen gehen zu können.Aber ich wollte unbedingt meinen Vater suchen und hoffte immer noch, dass ich ihn finden würde. So kam ich über den Jungfernstieg, den schönen Alsterpavillion, der eine riesige ausgebrannte Ruine war, bis zur Moorweide am Dammtorbahnhof. Auf dem Platz war eine riesige Menge verzweifelter Menschen, die auf einen Transport warteten, entweder nach Schleswig Holstein, in den Süden, oder noch weiter weg. Sie standen da, schlurfend mit ihren letzten Habseligkeiten, mit Kisten auf Karren und Bündeln von Bettzeug auf Fahrrädern; sie hatten alles verloren, so wie ich. Unter ihnen hatten sich riesige Berge von Brot aufgebaut, auch Butter und andere Lebensmittel. Welch ein Wahnsinn, die Butter war in der Hitze geschmolzen! Und in diesem Gewühl von Tausenden von Menschen wollte ich meinen Vater finden. Ein Ding der Unmöglichkeit, wie ich nach einiger Zeit feststellte. Also machte ich mich auf den Rückweg, zurück durch die zerstörten Häuser und Straßen. Am Nachmittag, besiegt, kam ich mit dem Feuerzeug wieder in Lauenburg an.

Auszug aus dem Buch „Hamburg, Juli 1943 von Martin Middlebrook“; Seite 99 bis 100.
An einem Morgen Anfang der 90er Jahre wurde in London ein Denkmal „für herausragende Dienste“ für Sir Arthur Harris, Air Chief Marshall der Royal Air Force Großbritanniens, enthüllt. Es besteht kein Zweifel, dass Sir Arthur Harris an diesem Morgen nur ein Hauptziel hatte…Hamburg. Glücklicherweise hat ein sehr wichtiges Dokument den Krieg überlebt. Es handelt sich um einen Brief vom 27. Mai 1943 von Harris an die Kommandeure seiner sechs Bombergruppen, in dem er seine Absichten erläutert.

STRENG GEHEIM: Bomber Command Operation Orders, No.173. Ausgestellt am 27. Mai 1943.
1) Die Bedeutung Hamburgs, der zweitgrößten Stadt Deutschlands mit eineinhalb Millionen Einwohnern, ist bekannt und braucht nicht besonders betont zu werden. Die totale Zerstörung dieser Stadt würde durch die Verringerung der industriellen Kapazität der gegnerischen Kriegsmaschinerie immense Auswirkungen haben. Dies würde, zusammen mit der Wirkung auf die deutsche Moral, die im ganzen Lande zu spüren sein wird, eine sehr wichtige Rolle bei der Verkürzung des Krieges und damit bei dessen Sieg spielen.

2) Die „Schlacht um Hamburg“ kann nicht in einer einzigen Nacht gewonnen werden. Es wird geschätzt, daß mindestens 10000 Tonnen Bomben erforderlich sein werden, um die Auslöschung zu vollenden. Um die maximale Wirkung der Luftangriffe zu erzielen, muß die Stadt einem kontinuierlichen Angriff ausgesetzt werden.

3) Beteiligte Streitkräfte. Die Kräfte des Bomberkommandos werden aus allen schweren Bombern der einsatzfähigen Staffeln und den mittleren Bombern bestehen, vorausgesetzt, es herrscht ausreichend lange Dunkelheit, um ihre Teilnahme zu ermöglichen. Es ist zu hoffen, daß schwere Tagesangriffe, durch das 8. Bomber Command der Vereinigten Staaten von Amerika, den Nachtangriffen vorausgehen bzw. folgen

.4) Zweck: Hamburg zu zerstören.Auszug aus dem Buch „Hamburg, Juli ’43“, von Martin Middlebrook. Aus dem Schutzumschlag des Buches: „Der verwundbare Punkt in der deutschen Bevölkerung während des Krieges ist die Moral der Zivilbevölkerung gegenüber Luftangriffen… Solange diese Moral nicht gebrochen ist, wird es nicht möglich sein, Landstreitkräfte auf dem europäischen Festland mit Aussicht auf Erfolg zu platzieren.“ So fasste Air Marshal Sir F.A.Portal, einer der Strategen des britischen Bomber Command, die Gründe für die Angriffe auf die zivilen Ziele in den dicht besiedelten deutschen Städten zusammen. In vier Nächten, in der Zeit vom 24. Juli bis zum 3. August 1943, war Hamburg das Ziel erfolgreicher Luftangriffe von Bombern auf eine deutsche Stadt. In der „Schlacht um Hamburg“ wurden 45000 Menschen getötet, darunter 22500 Frauen und 4500 Kinder. Allein in der Nacht vom 27. zum 28. Juli, der Nacht des großen Feuersturms, wurden 40000 Menschen getötet. „Im Zentrum dieser ‚Feuerhölle‘ herrschte eine Temperatur von 800 º C. Die Luft wurde mit großer Geschwindigkeit aus allen erreichten Richtungen durch die Kraft des Orkans gesaugt. Das war der Feuersturm.

Auszug aus dem Buch, „Hamburg, Juli ’43“, von Martin Middlebrook; Seite 306, erzählt von einem Besuch von Anne Lies Schmidt in Hammbrook, um ihre Eltern nach dem „Feuersturm“ zu finden : Ich ging zu Fuß weiter in das Grauen hinein. Niemand durfte die zerstörte Gegend betreten. Ich glaube, dass angesichts solcher Opfer der Wille zum Widerstand wächst. Wir kämpften mit dem Kommandanten der Straßensperre und kamen durch. Mein Onkel wurde verhaftet.Vierstöckige Wohnhäuser, bis in die Keller, nur ein glühender Steinhaufen. Alles war geschmolzen und schob die Leichen vor sich her. Frauen und Kinder verkohlt bis zur Unkenntlichkeit. Halb verkohlte Körper, von erkennbaren Überresten von Menschen, die an Sauerstoffmangel gestorben waren. Gehirne quollen aus geplatzten Schläfen, Eingeweide hingen unter den Rippen hervor. Der Tod dieser Menschen muss furchtbar gewesen sein. Die kleinsten Kinder lagen wie gebratene Aale auf dem Straßenbelag; im Tod, ihre Gesichtszüge zeigten noch, wie sie gelitten hatten, mit ausgestreckten Händen, um sich vor der erbarmungslosen Hitze zu schützen. Ich hatte keine Tränen mehr. Meine Augen wurden größer und größer, aber mein Mund blieb stumm.

2) Auszug aus dem Buch, „Feuersturm über Hamburg“, Seite 271 bis 273. Nach dem Krieg wurde der Wetterfaktor bezüglich des Hamburger Feuersturms untersucht, insbesondere von den Amerikanern Horatio Bond und Ch. H. Ebert. Nach Meinung von Ebert wurde die Entwicklung des Feuersturms zusammen mit einer ausgeprägten Zyklonspinnerei durch folgende anfangs vorherrschende Wetterbedingungen ermöglicht:

3) Das lange Bestehen eines stagnierenden Hochdrucksystems, durch das die intensive Sonneneinstrahlung die Stadtzone in außergewöhnlicher Weise aufheizen konnte.

 

Juni 1944 – Ein Luftangriff auf Hamburg von Charlotte Brozzo

Es muß noch Nacht gewesen sein, als von einem Flugplatz in Mittelengland viele Bomber – Geschwader, jedes etwa 14 – 17 Flugzeuge stark, in kurzen Abständen aufstiegen.

Zur gleichen Zeit, einige hundert Kilometer östlich, schlich sich das erste Morgengrauen in das glasklare, wolkenlose Firmament.Es war der frühe Morgen des 20. Juni 1944, der längste Tag und die kürzeste Nacht des Jahres. Und während einige hundert Bomber mit ihrer todbringenden Last gen Osten flogen, begleitet von ‚Pilotflugzeugen‘, die die Abwurfstellen mit sogenannten ‚Tannenbäumen‘ markierten, begann in ihrem Zielgebiet Hamburg das normale Leben eines Tages im fünften Kriegsjahr.

Straßenbahnen rasselten durch notdürftig instandgesetzte Straßen, besetzt mit Menschen, die zur Arbeit fuhren, oder von der Nachtschicht kamen. Hausfrauen eilten mit Taschen und Eimern zu Läden, die kaum als solche zu erkennen waren, um Lebensmittel oder sonstwas zu ergattern. Lastwagen und Pferdefuhrwerke belebten das Bild. Ab und zu war ein Militärfahrzeug zu sehen. Aus den Kellern mancher Ruinen stieg Rauch auf, der zeigte, daß hier Menchen wohnten.Es war wie an allen Tagen im letzten Jahr, seit die Angriffe 1943 einen Großteil der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten.

Die Villa in der vornehmen Enzianstraße verließen wir gleichzeitig. Wir waren Arbeitskollegen, die von der Behörde hier eingewiesen waren. Der Mann bewohnte mit seiner Frau eine kleine Einliegerwohnung und ich schlief in einem winzigen Dachzimmer auf einem Notbett.“Ist das ein herrliches Wetter“ sagte ich, „man sollte einen Urlaubstag nehmen und baden gehen.“ „Hm“ brummelte der Mann,“das geht nicht, wir haben genug zu tun.“

Schweigend gingen wir zum U-Bahnhof Lattenkamp, schweigend und unseren Gedanken nachhängend erreichten wir den Bahnhof Mundsburg. Als die Bahn hielt, kam eine Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste, der Zug fährt nicht weiter, wir haben Voralarm. Suchen Sie bitte den nächsten Schutzraum auf.“ „Willst du in einen Bunker?“ fragte der Mann.“Nee, ich nicht“, war meine prompte Antwort, „wir gehen einfach zu Fuß weiter zur Firma. Da ist sowieso alles in Trümmern, also werden dort wahrscheinlich keine Bomben mehr fallen.“

Wir gingen weiter auf fast menschenleeren Straßen, zwischen Ruinen und notdürftig ausgebesserten Häusern. Als wir die Bürgerweide erreicht hatten, gab es Vollalarm. Ein Luftschutzwart, kenntlich an einer Armbinde, kam uns entgegen. „Vollalarm“ rief er, „dort ist ein Keller, kommen Sie schnell!“ „Wir haben es nicht mehr weit“ antwortete der Mann „wir schaffen es schon.“ Nun gingen wir beide etwas schneller. Heidenkampsweg, Kreuzung Eiffestraße, dann Wendenstraße, weiter, vorbei an der ausgebrannten Badeanstalt an der Süderstraße. Hier standen ein paar SS Leute mit dem Gewehr im Anschlag. Irgendwo im Hintergrund stand ein zusammengepferchtes Häuflein KZ Häftlinge, die von den SS Leuten offensichtlich bewacht wurden. Nach wenigen Minuten hatten wir das Gelände unserer Firma erreicht.

Kein Mensch war zu sehen. Zwei Lastwagen standen auf dem Hof,leer. Die Arbeiter und Kraftfahrer waren in den nächsten Bunker gegangen. Das flache, langgestreckte Gebäude hatte in der Mitte eine Eingangstür von der Straße und am Ende eines Korridores eine Tür zum Hof. Nachdem wir unsere Taschen abgestellt hatten, griff der Mann zum Telefon. Er wählte die Nummer des ‚Drahtfunks‘ und der ‚Onkel Baldrian‘ genannte Staatsrat Ahrens gab bekannt, daß ‚feindliche Kampfflugzeuge‘ im Anflug auf Hamburg seien.

„Geh‘ raus und paß‘ auf, wenn sie kommen“ ordnete er an. Ich stellte mich an die Tür zum Hof. Von Ferne war Flakfeuer zu hören. Im Osten, kaum sichtbar wegen der strahlenden Morgensonne, sah ich drei ‚Tannenbäume‘ leuchten und dann waren auch Bombeneinschläge zu hören. Der Mann blieb weiter am Drahtfunk und rief mir alle Neuigkeiten zu.

Als ich mit den Augen den Himmel absuchte, erschrak ich, denn aus dem Sonnenlicht löste sich ein Schwarm – ich zählte rasch 14 viermotoriger Bomber. Dreizehn glänzten silbern, aber einer sah aus wie von Ruß überzogen, duff-schwarz. Ich rief meinem Kollegen zu „da oben fliegen Bomber“ und mit Erschrecken sah ich, daß sich gerade über uns die Bombenklappen öffneten und eine lange Reihe Bomben herausfiel.

„Nun ist es aus“ sagte ich, aber der Mann beruhigte: „Wenn die Bomben hier über uns ausgeklinkt werden, schlagen sie je nach Flughöhe weit entfernt ein. Ich schätze mal so etwa 5 Kilometer.“ Inzwischen tauchten immer weitere Staffeln aus dem Sonnenglast auf, mal 13, mal 17 Maschinen stark. Und eine davon war immer schwarzduff. Irgendwann bei 200 hörte ich auf zu zählen, aber es kamen immer noch welche.

Die Flak schoss wie wild. Am Himmel zerplatzten viele kleine weiBe Wölkchen und hunderte, nein tausende der scharfkantigen Flaksplitter surrten und schwirrten um mich herum zur Erde.Auf dem Firmengelände gab es einen kleinen Unterstand aus Metall. Wir hielten uns beide unsere Taschen über den Kopf und rannten zu dem Unterstand, als wenn es etwas nütze. Das Aufschlagen der Flaksplitter auf das Schutzdach war jedoch so laut, daß wir sofort wieder zurückhasteten.

Von der Straßentür aus sahen wir weit hinter den Ruinen der Billstraße zwei dicke schwarze Rauchsäulen aufsteigen. „Die Raffinerieen in Wilhelmsburg“, sagte der Mann und ich nickte, „ja sicher, aber es sind bestimmt wieder auch Bomben daneben gefallen.“ Doch wir sahen noch etwas: Zwei Flugzeuge waren getroffen worden und trudelten langsam zur Erde. Aus einem löste sich noch etwas, das wie ein Motor aussah. Und dann schwebten auch noch fünf orangefarbene Fallschirme mit ihrer menschlichen Last herab. „Schade, daß sie nicht hier landen,“ bemerkte ich, „sicher haben sie Schokolade dabei“ – „und Zigaretten“ ergänzte der Mann.

Nachdem ‚Onkel Baldrian‘ und die Sirenen das Ende des Angriffs gemeldet hatten, kamen die Arbeiter und Kraftfahrer aus dem Bunker zurück. Sie waren sichtlich froh, zwei gesunde und auch ganz muntere Angestellte vorzufinden.

Etwa 5000m höher und einige Kilometer westlich flog eine Armada von Bombern ohne ihre tödliche Last und mit fast leeren Treibstofftanks zurück zu ihrem Heimatflughafen.

BDM – Mädchen Gisela von Gisela Richter (Jhrg. 1924)

Als nach 1945 so viele Menschen davon sprachen, „dass es alle gewusst haben“ was in den KZs passiert war und immer mehr Scheußlichkeiten bekannt wurden, habe ich mich immer wieder gefragt, woher die Leute ihr Wissen hatten und warum ich so ahnungslos war? – Warum ist bei uns zu Haus auch nicht andeutungsweise kritisch über Hitlers Politik, seine Feldzüge und den Holocaust gesprochen worden?
Zuerst habe ich die Berichte für maßlos übertrieben gehalten, weil mein Vorstellungsvermögen einfach nicht ausreichte, um den ganzen Wahnsinn zu glauben. Aber dann verfolgte ich die Dokumentationen in den Medien und mir wurde klar, dass sich im Elternhaus meine entscheidende Prägung vollzogen hat. Ein heranwachsender Mensch in der damaligen Zeit hatte kaum eine Möglichkeit, an andere als an die verordneten Informationen heranzukommen, und er sah auch keine Notwendigkeit dafür, wenn schon im Elternhaus keinerlei Zweifel aufkamen.
Den Nachfolgegenerationen zur Mahnung: Nur wenn schon zu Hause kritische Gespräche geführt werden und in den Medien, der Schule und im Freundeskreis über politische und gesellschaftliche Probleme kontrovers diskutiert werden kann, können Jugendliche hellhörig werden und sich einseitiger Indoktrination entziehen. Ich gehörte damals zu den anderen, den Verführten, die sich völlig unkritisch und angepaßt glücklich schätzten, in diese wunderbare Zeit hineingeboren zu sein und habe den „Dienst“ im BDM gern aufgenommen.

Es begann mit einem Gespräch zwischen Vati und mir. – Wir schrieben das Jahr 1934, ich war fast 10 Jahre alt und Hitler ein Jahr an der Macht. Vati erzählte mir etwas aus der Geschichte (vom verlorenen Weltkrieg und der schlimmen Zeit danach), wie der Führer nun alles zum Besseren gewendet und uns wieder eine Zukunft gegeben hat. Dass wir so froh sein könnten, Hitler zu haben. Dass wir stolz sein dürften, Deutsche zu sein weil wir wieder Achtung in der Welt erlangten.
Das konnte Vati mir so gut vermitteln, weil er natürlich schon überzeugter Nationalsozialist war, nur die hehren Ziele sah und Hillers wahre Pläne nicht kannte oder einfach nur das sah, was er sehen wollte. Hinzu kam, dass die deutsche Propaganda ebenso massiv wie einseitig war. Eine Opposition gab es nicht. Und wenn später kritische Stimmen laut wurden, dann kamen sie von „Volksschädlingen‘, die vom Ausland gesteuert waren und die ‚ausgeschaltet‘ werden mussten.
Vati war der festen Meinung, dass alles zum Wohle des deutschen Volkes geschah und der Führer, den uns ja die „Vorsehung“ geschickt hatte, durch und durch edel und selbstlos war.
Ich weiß nicht wie er es verkraftet hätte, wenn ihm die ganze Tragödie noch bekannt geworden wäre. Sicher hätten immer noch die anderen Schuld an der Katastrophe gehabt, die dem Führer eins auswischen und die eigene Haut mit Gewinn retten wollten. Er überließ es mir, den gewaltigen Einbruch in meine – mit so viel Vertrauen aufgebaute – politische Sichtweise allein zu verkraften. Denn Vati starb Ende 1945 in einem Kriegsgefangenenlager bei Thorn. So aber, 1934, machte mir Vati klar, dass nun jeder aufgerufen sei, nach seinen Kräften am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken. Und da dem Führer doch gerade die Jugend so am Herzen läge und es doch auch meine Zukunft wäre, sollte ich doch mal überlegen, ob ich nicht in die Hitlerjugend eintreten wolle? Und natürlich wollte ich!!!
Zu solch einer Jugend wollte ich gehören, die so viel bot, und wo man sich durch die Uniform von der Masse abheben konnte. Somit wurde ich schon 1934 freiwilliges Mitglied des BDM (Bund deutscher Mädel) und zwar „Jungmädel‘. Später wurde der Eintritt in die Jugendorganisation zur Pflicht gemacht. Jungmädel, das waren die 10- 14jährigen Mädchen, die anschließend in den BDM übernommen und mit 18 Jahren in die NSDAP überführt wurden und dann z.B. auch in der NS-Frauenschaft tätig sein konnten. Bei den Jungen war der Ablauf gleich. Nur hießen sie erst Pimpfe, dann Hitlerjungen und als Erwachsene konnten sie sich für die Mitarbeit in der Partei oder deren Gliederungen entscheiden: NSDAP – Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, SA – Sturmabteilung, NSKK – Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps NSFK oder Nationalsozialistisches Fliegerkorps. Oder, wer nun in die erlesenste Organisation wollte, ging zur SS. Vorausgesetzt, er wurde auch für würdig befunden. – Denn hier tummelte sich die absolute Elite, herangezogen in den „Napolas“ (Nationalpolitische Erziehungsanstalten). Das waren Internate, wo nur die innerlich und äußerlich integren Edel-Jugendlichen für die spätere Führungsschicht herangebildet wurden. Und diese Ausbildung war hart.
Ich kam also zu den Jungmädeln, wo die kleinste Zelle die Jungmädelschaft, ca. 10-15 Mädchen umfasste. Vier Schaften bildeten dann eine Schar und vier Scharen waren eine Gruppe, die das gleiche Einzugsgebiet wie die Partei-Ortsgruppe hatte. Jede Zelle wurde von einer Führerin geleitet. Äußerlich erkennbar an einer „Kordel“ an der Uniform. Die unterste Stufe war rot-weiß, die nächste grün und die Gruppenführerin trug grün-weiß.
Das Wichtigste für mich war nun erst mal die Uniform, denn ohne sie war man ein Niemand. Es blieb den Eltern überlassen, wie sie die Sachen finanzierten. Einiges wurde selbst genäht wie z.B. der schwarze Wollrock, vorn mit Kellerfalte, sonst glatt, der bei den Jungmädchen mit Perlmuttknöpfen auf die weiße Hemdbluse (mit Kurzarm und Brusttaschen) aufgeknöpft wurde. Bei den BDM-Mädeln wurde der Rock mit Gürtel getragen. Ein schwarzes Dreiecktuch wurde zum Halstuch aufgerollt und zwar so, dass eine Ecke blieb, die unter dem Blusenkragen hervorsah. Die langen Enden wurden durch einen geflochtenen Lederknoten geschoben. Außerdem gehörte noch eine Kletterweste (hellbraune Velveton Jacke) mit Brusttaschen, eine „Berchtesgadener“ (schwarze Strickjacke mit Schößchen und grün-roten Streifen am Halsausschnitt) dazu. – Diese Jacken werden noch heute in Berchtesgaden getragen. Übrigens haben wir gelernt, dass das schwarze Halstuch nicht nur Zierde war, sondern bei Verletzungen von Arm oder Hand als Tragehilfe dienen konnte (Schlinge). Im Winter wurde die Uniform noch durch eine Strickmütze (Teufelskappe) und Handschuhe ergänzt. Und natürlich trugen wir zu allen Jahreszeiten feste, geschnürte Halbschuhe. – Das höchste Glück waren die „Bundschuhe“, die ich leider nicht bekam. Hier konnten so herrliche eiserne Spitzen und an den Absätzen Hufeisen angebracht werden, die dann beim Marschieren so herrlich knallten! Doch Mutti hatte (für mich damals leider) andere Vorstellungen von einem heranwachsenden Mädchen. Ihr waren schon die grauen Kniestrümpfe ein Gräuel, die bis einschl. Führers Geburtstag am 20. April getragen werden mussten. Danach kamen dann die weißen Söckchen.
Zuerst lernte ich mal, dass die Uniform ein „Ehrenkleid“ ist, das zu allen Feiern – auch Familiengeburtstagen usw. – getragen werden kann und selbstverständlich zu den politisch verordneten Festen Pflicht war. Und natürlich habe man in der Uniform immer untadelig aufzutreten. Außerdem gehöre es sich nicht, zur Uniform irgendwelchen Schmuck zu tragen, denn: die Uniform ist der Schmuck!!! Bei mir gab es nichts Derartiges. Ich weiß aber, dass bei vielen Mädchen die Ohrringe nur mit großer Mühe herausgenommen werden konnten. Aber raus mussten sie. Meine Uniform habe ich immer mit großem Stolz getragen und ging gern zu allen Veranstaltungen. Sie wurden als Dienst bezeichnet und hatten immer Vorrang. Das war natürlich eine feine Sache, um sich zu Hause vor unliebsamen Arbeiten zu drücken. Außerdem wurde uns beigebracht, dass zuerst immer die Führerin Recht hat, und dann erst die Eltern. Das fand ich zuerst ganz toll. Später hat es mich abgestoßen.
Zum Dienst gehörte zuerst der wöchentliche Heimabend. Hier wurde gesungen, denn wir mussten beim Marschieren nicht nur die bekannten Volkslieder singen, sondern vor allem das NS-Liedgut. Und dann wurde uns natürlich die NS-Ideologie eingebläut. Damit hatte ich allerdings keine Probleme, weil im häuslichen Bereich der gleiche Tenor herrschte.
Und dann gab’s die Ausmärsche! Zuerst hatten wir – genau wie die Rekruten – die Kommandos zu lernen und zu befolgen: Antreten in Linie zu einem Glied (oder zwei oder drei Gliedern) Augen rechts, richt‘ euch! Dabei hatten wir den rechten Flügelmann als Fixpunkt zu nehmen und uns auf eine gerade Linie zu schieben. Fußspitzen genau ausgerichtet. Augen geradeaus! D i e Augen … darauf durfte nur links kommen und dann wurde nach dieser Seite ausgerichtet. – Aber viele brachten immer rechts und links durcheinander. Hatten wir nun endlich unsere Linie zur Zufriedenheit erstellt, hieß es: Rechts um – im Gleichschritt marsch, wobei der linke Fuß immer zuerst aufgesetzt werden musste. – Das klappte anfangs ebenso wenig, sodass erst mal eine Zeitlang: links, links, links gerufen wurde, bis jeder den richtigen Tritt hatte. Oftmals wurde das „Links“ noch mit dem schrillen Ton der Trillerpfeife unserer Führerin unterstützt. Wenn eine Führerin in ihrem Rang bestätigt wurde, bekam sie feierlich die entsprechende Kordel ausgehändigt. Sie wurde über dem Halstuch getragen, auch durch den Knoten gezogen und das Ende in die linke Brusttasche gesteckt. An diesem Kordelende war dann die Trillerpfeife mit einem Karabinerhaken befestigt.
Sehr schön war für mich der Sport. Nach dem Motto: ,In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist‘ wurde in der NS-Zeit allergrößter Wert auf körperliche Ertüchtigung gelegt. Und hier war es die Leichtathletik, die den breitesten Raum einnahm, weil man sie fast überall ausüben konnte. (Es gab ja noch keine hochqualifizierten Anlagen oder Geräte). Hierbei merkte ich, dass ich gewisse Fähigkeiten hatte und mich auszeichnen konnte. Zu begeistern waren auch wir Mädchen mit Geländespielen, Schnitzeljagden, Fackelmärschen und ähnlichem. – Wir lernten auch, mit dem Kompass umzugehen.
Ein tolles Erlebnis war für mich ein Zeltlager auf Rügen! Zuerst mal musste ein Tornister, der sog. Affe“ (weil er mit Fell bespannt war) beschafft werden. Er wurde für mich irgendwo geliehen. Wir lernten das sachgemäße Packen, die zusammengerollte Decke wurde über den Tornister gelegt, festgeschnallt und das Kochgeschirr auf dem Tornisterfell durch vier Lederösen, mit Riemchen festgezurrt. Quer über die Schulter wurde der Brotbeutel getragen, der Verpflegung, Besteck usw. enthielt. Dazu gehörte dann auch die angehängte Feldflasche. So fuhren wir mit dem Zug nach Rügen, wo die Zeltstadt schon aufgebaut war. – Wir wurden auf große Rundzelte verteilt; und zwar kamen so viele Mädchen in ein Zelt, dass der Platz knapp wurde. Wir lagen mit den Füßen zur Zeltmitte, und da gab’s dann schon Gerangel. Unterm Kopf hatten wir den Tornister und jeder deckte sich mit seiner Decke zu. Das war ja alles ganz romantisch, aber eben nicht bequem. Denn wenn sich ca. 20 Mädchen im Zelt aus- und anziehen oder etwas suchen, dann wird’s ungemütlich. Und nach jedem Aufstehen hatten alle Sachen fein säuberlich verstaut zu werden, denn es gab „Zeltappell“ und bei Nichtgefallen: Extradienst!
Nach der Parole: „Gelobt sei, was hart macht“, ging’s morgens – noch schlaftrunken – aus dem warmen Zelt im Dauerlauf zum Frühsport hinunter ans Meer. Das ging ja noch. Aber dann kam die Morgenwäsche mit dem Zähneputzen direkt in der Ostsee, und die war kalt!!! – Das war nun gar nicht mein Fall. Aber was half s? Man durfte vor allem nicht auffallen, um nicht besonders getriezt zu werden. Der erste feierliche Akt des Tages war dann der Fahnenappell. Wir hatten – in korrekter Uniform – im offenen Viereck vor den Fahnenmasten anzutreten, schmetterten ein Lied, dann gab’s eine kurze Ansprache der Lagerleitung mit der Tageslosung, strammstehen und das Kommando:
„Heißt Flagge“. Und abends ging’s dann in umgekehrter Reihenfolge wieder zum Einholen der Flagge. – Wir lernten auch, dass eine Fahne etwas Heiliges ist, die man schützen und bewahren und im Notfall auch verteidigen muss!
Wir lernten die Insel Rügen kennen, fuhren nach Stubbenkammer und bestaunten die Kreidefelsen.
Am eindrucksvollsten aber waren die Abende am Lagerfeuer! Es wurde viel gesungen mit Gitarrenbegleitung und Verse zeitgenössischer Dichter rezitiert. Darin wurde natürlich immer die Heimat, das Vaterland verherrlicht, Helden wurden verehrt. Dies alles verfehlte nicht seine Wirkung auf uns. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich in eine Zeit hineingeboren war, die so groß und herrlich ist, wie sie es vorher noch nie gegeben hatte, und dass uns noch Generationen später darum beneiden würden. Das Germanentum wurde uns näher gebracht, denn von ihnen stammten wir ja ab. Das Hakenkreuz war vom Sonnenkreuz der Germanen abgeleitet, nur eckiger gestaltet.
Und dann wurde die Sonnenwendfeier zelebriert! Wir hatten uns Verse selbst zu dichten oder aus einem Buch herauszusuchen. Durch Gesang und Ansprachen wurden wir eingestimmt und als das Feuer heruntergebrannt war, liefen wir zu zweit oder dritt mit gefassten Händen an und sprangen über den noch glimmenden Holzstoß, wobei dann die Verse laut gerufen werden mussten. Ich wüsste nicht, dass sich damals ein Kind dieser eigenartigen Stimmung entziehen konnte. Wir waren alle beeindruckt und gingen still schlafen.
Als ich wieder nach Haus kam, war ich in meiner Begeisterung ein ganzes Stück vorangekommen.
In Berlin waren wir immer dicht am politischen und kulturellen Geschehen. Es gab Aufmärsche und Veranstaltungen im Berliner Olympiastadion. Zu den festen Terminen gehörten vor allem „Führers Geburtstag“ am 20. April und dann der Maifeiertag. Da hieß es dann früh aufstehen, antreten und mit der S-Bahn Richtung Grunewald zum Stadion fahren. Da waren die Bahnen schon voll und am Ziel formierten sich die Gruppen mit Fahnen und Wimpeln und marschierten ins Stadion ein, das dann bis auf den letzten Platz gefüllt war. Bis zum Beginn der Veranstaltung wurden wir mit flotter Marschmusik unterhalten und wenn dann der Führer nahte, wurde immer der „Badenweiler Marsch“ als Erkennungsmelodie gespielt. Die Wagenkolonne fuhr durch das Olympiator, vornweg der Führer in seinem offenen Mercedes, eskortiert von Polizisten auf Motorrädern. Der Führer fuhr stehend mit dem ausgestreckten Arm zu Hitlergruß eine Ehrenrunde. Das war für uns dann der Augenblick, in lautstarke „Heil-, Heil-, Heilrufe“ auszubrechen. Die Begeisterung schwappte über, bis dann alle Offiziellen ihre Plätze eingenommen hatten.
Dann sprach als erster unser Reichjugendführer Baldur von Schirach, anschließend vielleicht noch Goebbels und dann kam endlich die Hitlerrede. – Meist hörten wir nur am Anfang zu, denn seine Reden waren immer recht lang und den tieferen Sinn haben wir gar nicht verstanden. Aber immer wieder konnten wir hören, dass die deutsche Jugend etwas Besonderes und zu Höherem berufen ist.
Wenn die Ehrengäste wieder mit vielen Heilrufen verabschiedet waren, endete für uns die Veranstaltung und wir konnten hinüber zum Maifeld gehen. Das war ein großer Rasenplatz, wo wir mit Erbsensuppe oder Pichelsteiner Fleisch aus der Gulaschkanone versorgt wurden. Es gab Pappteller zum Wegwerfen und Aluminiumlöffel, die wir als Trophäe mit nach Haus nahmen. Dann lösten sich die Gruppen auf und man ging da hin, wo was los war.
Und das war „Unter den Linden“ oder auf der „Ost-West-Achse“ heute wie auch früher – Charlottenburger Chaussee. Hier wurde immer eine Parade abgehalten, denn das „Dritte Reich“ stellte seine Macht gern zur Schau, so wie es in allen totalitären Staaten gehandhabt wird. – Für uns war das ein tolles Schauspiel, das unsere Achtung vor der deutschen Wehrmacht noch größer werden ließ. Und wenn ich dann abends wieder todmüde zu Haus anlangte hatte ich das Gefühl, etwas ganz Tolles erlebt zu haben.
So erfüllte ich meinen Dienst gern in der Überzeugung, meine ganze Kraft für dieses herrliche Reich einsetzen zu wollen. – Ich muss so 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, als ich zur „Schaftsführerin“ ernannt wurde. Später stieg ich noch zur „Scharführerin“ auf und trug stolz meine grüne Kordel. Für diesen Zeitabschnitt lässt mich meine Erinnerung im Stich. Ich kann mich weder an meine Tätigkeiten, noch an Namen oder Gesichter erinnern. Hier klafft bei mir einfach eine Lücke. – Ich denke, dass die späteren Kriegsereignisse diese Zeitspanne überdeckt haben. Ich musste doch meine Schüchternheit etwas überwunden haben, denn wie sollte ich sonst vor eine Gruppe Mädchen getreten sein, die mich erwartungsvoll ansahen und denen ich etwas vermitteln sollte? Wie mit Vorgesetzten oder mit Eltern reden? Ich weiß es nicht mehr!
Mit 18 Jahren wurde ich automatisch in die NSDAP übernommen und trug stolz mein Parteiabzeichen. Die Eltern waren natürlich auch zufrieden, dass sich ihre Gisela so gut in der gewünschten Richtung entwickelte. In der Partei habe ich dann weder ein Amt bekleidet noch an irgendwelchen Veranstaltungen teilgenommen. Es war Krieg und jeder auf sich gestellt, um zu überleben.

Kriegsende im Kloster von Dr. Josef Scharrer

Durch die immer häufiger werdenden Luftangriffe auf Nürnberg wurden meine Eltern 1944 vor die Entscheidung gestellt, mich – ihren damals Zwölfjährigen – entweder mit der „Kinderlandverschickung“ in die Hohe Tatra mitzugeben, oder einen anderen Ort mit Hauptschule zu suchen, der in weniger gefährdeten Zonen läge.

Schließlich war die Entscheidung gefallen. Zusammen mit meiner Oma wurde ich nach Waldsassen in der Oberpfalz geschickt. Dort war meine Tante Klosterfrau (Nonne) bei den Zisterzienserinnen. Die Machthaber wollten zwar das Kloster auflösen und einem „sozialen Zweck“ zuführen, die Äbtissin war aber so klug, das Kloster den Angehörigen der Schwestern anzubieten., die in den Großstädten fliegergeschädigt waren. So fanden sich viele „Restfamilien“ aus ganz Deutschland im Kloster Waldsassen ein. Ich wohnte im Kloster und besuchte die Hauptschule im Ort mit astreiner Nazi-Ideologie.

In Waldsassen kam ich langsam zur Ruhe. Die Stille des Klosters im Gegensatz zur Großstadthektik mit der ständigen Bedrohung durch Fliegerangriffe in Nürnberg machte mir zwar anfangs zu schaffen, aber mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit der Situation abzufinden. Meine kranken Füße wurden von der Krankenschwester im Kloster kuriert. Sie hatte für mich eine spezielle Salbe aus Honig, Kräutern und Schmalz zusammengebraut, die innerhalb von wenigen Tagen alles heilen ließ. Ich kann mich noch genau an diese wunderbare Erlösung erinnern, denn jetzt konnte ich wieder richtig laufen. Als meine Mutter in den letzten Kriegswochen nach Waldsassen nachkam, durften wir uns zwei kleine Zimmer unterm Dach einrichten. Nun hatte ich endlich wieder ein kleines Zuhause, wenn auch die Sorge um den Vater bei der Marine in Italien, den Bruder an der Ostfront und die Schwester bei den „Blitzmädchen“ ( Wehrmachtshelferinnen im Bereich Fernsprechverkehr) blieb.

Langsam kamen die Kriegsspuren auch in unser klösterliches „Stiftland“. Unruhe erzeugte die Nachricht, daß die „Wunderwaffe V2“ gegen England zum Einsatz gekommen war. Gab dies dem Krieg doch noch eine Wende? Die Erwachsenen sprachen erregt darüber – pro und contra. Der Kriegslärm kam aber auch in Waldsassen immer näher. Wir wurden in der Schule zum Umgang mit der Panzerfaust vorbereitet. Als dies meine Klostertante erfuhr, hat sie mich einfach krank gemeldet. So war für mich wenige Tage vor dem Einmarsch der Aliierten die Schule „beendet“. Im Kloster war ich trotzdem vollauf beschäftigt . Da ich nicht tatenlos herumsitzen wollte, bekam ich Gelegenheit, gleich mehrere Berufe kennenzulernen. Da war die klostereigene Mühle, in der es immer etwas zu tun gab. Besonders interessant für mich war die Schmiede, da der alte Meister wirklich alles reparieren konnte, was in einem solchen Gemeinwesen anfiel. Ich durfte zugucken und lernte dabei manchen nützlichen Handgriff. Jeden Morgen um 6 Uhr mußte ich mit meiner Tante die Milch mit einem kleinen Wagen im Stall abholen und zur Molkerei bringen – mal 6, mal 8 Kannen.

Auch tagsüber gab es für mich immer etwas mit dem Handwagen zu transportieren.. An einem sonnigen Nachmittag war ich wieder mit meinem Leiterwagen unterwegs. Plötzlich hörte ich Tiefflieger. Der Pilot hatte mich auf einsamer Strecke entdeckt und begann mich regelrecht zu jagen. Mit letzter Kraft erreichte ich zwei nebeneinanderstehende Scheunen, zwischen die ich mich zwängen konnte, und schon fegten die Feuergarben an mir vorbei. Nach einer Viertelstunde war die Jagd zu Ende, aber ich verließ meinen Unterschlupf erst wieder, als es dämmrig wurde.

Eines Tages rückte SS in Waldsassen ein und bezog Stellung im Wald oberhalb des Klosters. Jetzt wurde es ernst für uns. Aus dem Städtchen flüchteten viele Menschen in die riesigen Kelleranlagen des Klosters, aber auch die Flüchtlinge und Bombengeschädigten, die im Kloster lebten, richteten sich dort ein. Selbst die im Ort ansässigen Kriegsgefangenen, Franzosen und Russen, wurden, von zwei alten Landsern bewacht, in den Kellergewölben einquartiert. Es war ein einziges Chaos. Alle waren besorgt und beteten darum, daß die Amerikaner und nicht die Russen als erste hier auftauchen sollten. Die Klosterschwestern haben unermüdlich uns alle mit Suppe versorgt. In einem abgeschiedeneren Teil des Kellers hielten die Schwestern Gebetsstunden ab. Daneben weinten Kinder und Frauen, und von draußen hörte man den Gefechtslärm, von dem niemand wußte , woher er genau kam. Zudem waren die wildesten Gerüchte im Umlauf. Einige behaupteten, daß in Nachbarorten „Neger“ alle männlichen Personen abgeschlachtet und die Frauen vergewaltigt hätten. Einige hielten Gift bereit, um im Ernstfall solchen Qualen zu entgehen.

Von den Russen, die bereits im Egerland waren, wurden noch grausamere Dinge berichtet. Die Lage schien hoffnungslos und war wieder von Angst um das eigene Leben gezeichnet. Mitten in diesem Gewühle der weitläufigen Klosterkeller wirkte meine Klostertante, die als Verwalterin alles zu organisieren hatte. Bei ihren „Patrouillengängen“ durfte ich sie begleiten. Was ich sah, machte mich recht mutlos. So haben wir beispielsweise einmal in einem abseits stehenden Korb ein totes neugeborenes Kind entdeckt, konnten es aber nicht identifizieren, schon gar nicht begraben, da ja draußen immer noch Gefechtslärm tobte.

Durch den Keller geisterte die Botschaft, man müsse auf dem Klostergebäude weiße Fahnen hissen, um die Übergabe der Stadt anzukündigen. Im Wald oberhalb von Waldsassen lag aber immer noch die SS, und man wußte wirklich nicht mehr, woran man denken sollte: an die armen deutschen Soldaten, an die einrückenden Kriegsgegner – was war besser für uns alle? Vom Bürgermeister erhielten wir die Aufforderung, keine weißen Fahnen auszuhängen, da das Kloster sonst Zielscheibe der SS würde. Das Ergebnis war banges Zuwarten, wobei man – ähnlich wie im Luftschutzkeller in Nürnberg – nichts tun konnte, gar nichts!

Dann war plötzlich Stille draußen. Meine Tante war so mutig, gleich nachzusehen, was dies bedeuten könne und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, dabei zu sein. Als wir ein plötzliches Gepolter in der Nähe des Eingangs vernahmen, versuchten wir aus dem Fenster etwas zu erspähen. Da waren amerikanische Soldaten im Hof vor der Klosterbrauerei, die versuchten, sich Zugang zum Bierlager zu verschaffen. Meine Tante öffnete mutig die Tür und ging mit mir hinaus. Sie meinte, ich könne doch Englisch sprechen. So ging ich neben ihr schlotternd auf die Amerikaner zu, die bis auf die Zähne bewaffnet waren. Der Anblick einer Nonne löste allerdings großen Respekt aus. „What you want?“ quälte ich heraus. Ihrem Kauderwelsch meinte ich entnehmen zu können, daß sie Durst hätten. Meine Tante schloß bereitwillig die Brauereitür auf. Einige GIs verschwanden im Inneren und kamen mit Kästen Bier wieder zum Vorschein. Dann postierte sich ein farbiger Soldat vor mich hin, drückte mir 20 Dollar in die Hand (was ich erst hinterher erkannte!) und fragte:“Money good?“

Ich war so verdattert, daß ich keinen Ton herausbrachte. Deshalb legte der soldier noch einiges dazu, – bis es 70 Dollar waren. „Yes“, sagte ich kleinlaut und hatte damit für das Kloster das teuerste Bier aller Zeiten verkauft. Nach einiger Zeit kam ein Offizier dazu. Er hatte etliche Körbe mit Schoko- und Frühstücksbeuteln dabei. Er übergab sie meiner Klostertante und reichte ihr dabei einige Schilder mit der Aufschrift „off limits“ (Zutritt verboten!), die wir an allen Zugängen des Klosters anbringen sollten. Soviel konnte ich gerade noch verstehen. Die Gefangenen wurden ohne große Aufregung an die Amis übergeben – auch den deutschen Bewachern geschah nichts – auf Fürsprache meiner Tante hat man die beiden Landser laufen lassen.

Endlich konnten sich die „Luftschutzkeller“ leeren. Aus war der Spuk – Ende des Krieges – zumindest in Waldsassen! Wir konnten es eigentlich gar nicht fassen.

Aber Ruhe konnte im Kloster auch noch nicht wieder einkehren. Jetzt kamen die endlosen Flüchtlingsströme aus dem Sudetenland nach Waldsassen. Es waren sicher einige tausend Menschen, die vom Kloster aufgenommen wurden. Wir mußten in alle ehemaligen Klassenzimmer der Klosterschule Stroh bringen. Jeder Raum, der einigermaßen geeignet war, wurde mit Flüchtlingen gefüllt. Straßen und Gassen in Waldsassen waren total verstopft mit Pferdewagen, Karren, Handwagen, gerade noch fahrbaren LKWs. Einige der Flüchtlinge bekamen im Kloster sogar Arbeit. Das Kloster hatte nun wieder einen eigenen Schreiner, Metzger und weitere 20 Handwerker.

Neben dem Flüchtlingselend gab es wie überall in Deutschland nach Kriegsende auch in Waldsassen Schwarzhandel. Einige Gebäude des Klosters waren während des Krieges vom Staat beschlagnahmt worden. Dort waren bei Nacht und Nebel Waren eingelagert worden und hinterher wurden die Räume versiegelt. Nun wagte man sich daran, diese Scheunen und Lagerhallen zu öffnen. Ein Märchenland tat sich auf. In einem Schuppen waren bis unter die Decke Radios verstaut, in einem anderen Fallschirmseide und in mehreren Tabak. Dies alles waren „Zahlungsmittel“ für einen regen Tausch, Ware gegen Ware, Ware gegen Lebensmittel, „steuerfreier“ Schwarzhandel.

Zu den schönsten Erlebnissen der Nachkriegszeit zählte, daß alle meine Angehörigen wieder wohlbehalten aus dem Krieg zurückkehrten. Als erste trafen meine Schwester und mein Bruder in Waldsassen ein. Einige Wochen später kam auch mein Vater aus Italien zurück. Nun galt unser aller Bestreben, wieder in unsere Heimatstadt Nürnberg zurückzukehren.

Ein Wort voraus

In der Gründungsphase des SNHH 1998 wurde auch eine Klientel von Senioren angesprochen, die das neue Medium Internet entdeckte und nutzte, um die meist traumatischen Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit  für sich selbst durch eine Niederschrift aufzuarbeiten und mit anderen auszutauschen. Da bot es sich an, das Seniorennet als Forum mit einem Link „Zeitzeugen“ zur Verfügung zu stellen. Über die entsprechenden Stichworte in den Suchmaschinen (Google gab’s zunächst noch nicht)  fanden bundesweit viele den Weg zu unserem Link und schrieben den Moderator und Redakteur des Links an.
Soweit die Autoren vorab festgelegte Spielregeln einhielten, wurden die eingehenden  Beiträge von ihm redigiert, soweit möglich auf historische Ungenauigkeiten hin überprüft,  die Texte in eine auch „online lesbare Kürze“ gebracht und an die Autoren  zur Genehmigung zurückgesandt. Unsere jeweiligen Webmaster  haben die Beiträge dann formatiert und in eine sehr ansprechende Form gebracht. Dabei sind schließlich bis 2003 insgesamt 62 Beiträge von 38 Autorinnen und Autoren gesammelt und veröffentlicht worden.
Das Echo in der Öffentlichkeit war, insbesondere in den „Jubiläumsjahren ( 60 Jahre seit ….dem Feuersturm in Hamburg … Kriegsende…..)“, sehr groß. Bald nach den ersten Beiträgen im Netz, erbot sich ein ehemaliger Angehöriger der Royal-Airforce aus Kanada – der deutschen Sprache leidlich mächtig – Beiträge ins Englische zu übersetzen. Kontakte nach Übersee entwickelten sich und der Moderator konnte vermitteln. Eine internationale „Luftwaffenhelferplattform“ ist auf diese Weise entstanden, die zwischenzeitlich einen eigenen Link betreibt. Journalisten verschiedener Rundfunksender, Fernsehsender, diverser Presseorgane lasen gezielt Berichte und baten um Vermittlung zu den Autoren. Der einzigartige Feuersturmbericht (Hamburg 1943) von Elfriede Sindel  fand beispielsweise auf diesem Wege Eingang in die GEO-Dokumentation von Christoph Kucklick. Aus New York kam eine Wissenschaftlerin und führte Interviews mit von ihr ausgewählten Autoren und Autorinnen und aus Oxford kam ein Professor für Zeitgeschichte und lud ins Radisson-Hotel zu Tonbandaufnahmen. Ein Hörfunk-feature mit Live-Aufnahmen des Brandenburgischen Rundfunks stand lange Zeit im Internet. Eine kleine Erfolgsgeschichte aus der Vergangenheit des SNHH. 

Seit 2006 gehen nur noch selten Anfragen ein und unsere Autorinnen und Autoren sind heute zwischen 75 und 85, soweit sie überhaupt noch unter den Lebenden weilen. Kontaktaufnahmen und ihre Vermittlung werden zunehmend schwieriger oder werden ganz abgewehrt. Das ist zu respektieren und so wurde bei der Umgestaltung der HP des SNHH im Sommer 2007 gemeinsam mit den Gestaltern und dem Vereinsvorstand beschlossen, das Forum zu schließen.

Die „Zeitzeugenseite“ war eine Sammlung ganz persönlicher zeitgeschichtlicher Zeugnisse „Gegen das Vergessen“, die sich zu einem Forum entwickelte. Etliche Organisationen wie z.B. das Zeitzeugenbüro in Hamburg oder das Kuratorium Deutsche Altershilfe in Köln u.a. haben die Seite verlinkt. Schon dies ist Grund genug, die Sammlung im Archiv als historisches Dokument auch der Vereinsgeschichte zu erhalten. Die Autorinnen und Autoren wurden von der Schließung des Forums verständigt und gebeten, ihre Beiträge an das „Lebendige Museum Online“ im Haus der Deutschen Geschichte in Berlin, zu senden, damit sie für die Nachwelt erhalten bleiben.

Der Weg Zurück Die letzten Tage des Krieges in der Altmark von Gertrud Everding

Der Weg zurück.
Der Horizont, lodernd im Schein eines zerschossenen und brennenden Dorfes, färbte den grauen Frühlingshimmel trübrot. Nebel trieb über den Fluss und vermischte sich mit dem stechenden Geruch von brennendem Holz. Der Ruf wilder Schwäne ertönte wie aus weiter Ferne, obwohl ihre Umrisse schattenhaft im nahen Uferbereich zu erkennen waren. Das junge Mädchen blickte auf das schnell fließende graugrüne Wasser. Sie stand eine ganze Weile hier, während sie mit ihrer Angst kämpfte. Etwa eine Stunde zuvor war die Leiche eines deutschen Soldaten vorbeigetrieben, und sie spürte den Schrecken noch immer in ihren Knochen.

Sie hatte ihre dünne Winterjacke, die aus einer braunen Wolldecke bestand, neben sich auf das Gras gelegt. Obwohl sie vor Kälte zitterte, zog sie nun ihren Pullover und ihren Rock aus und rollte die Kleidungsstücke fest zu einem Bündel zusammen. Mit Hilfe der Schnürsenkel hängte sie sich die Schuhe um den Hals. Mit dem Kleiderbündel in der Hand eilte sie mit ein paar geschickten Sprüngen die Böschung hinunter und begann, ohne zu zögern, das Flussbett zu überqueren. Die reißende, zerrende Strömung umhüllte sie gurgelnd und tosend. „Reiß dich zusammen“, sagte sie zu sich selbst, „wenn du den Kopf verlierst, wirst du nur Fehler machen.“.

Der Nebel war so dicht um sie herum, dass es schien, als wäre sie der einzige Mensch auf der Welt. Die Schwäne näherten sich neugierig, flüchteten aber sofort in die ruhigeren Gewässer des Uferbereichs. Die Wellen umspülten den mageren Körper des jungen Mädchens und drohten, ihn wegzureißen. Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Die Kälte schnitt ihr in die Knochen wie ein Messer. Das Wasser reichte schon fast bis zu den Brüsten des zierlichen jungen Mädchens. Ihre langen schwarzen Zöpfe hatten sich gelöst, und ihr Haar wirbelte nun wie schimmernde Schlangen um ihre Schultern.

Karen hatte keine andere Wahl, sie musste den Fluss überqueren, um nach Hause zu kommen. Die einzige Brücke weit und breit war am Vortag von sich zurückziehenden deutschen Soldaten gesprengt worden. Das junge Mädchen schaute sich ängstlich um. Dort im Schilf! War das nicht das Gesicht eines Negers? Irgendwann muss ich doch den feindlichen Soldaten begegnen! Da, plätschernd, wie vom Aufprall eines Körpers! Aber es war nur das Gezänk zweier Schwäne.

Diese Kälte! Der Aufruf vor zwei Tagen, am letzten Morgen im Arbeitslager, ‚Gotleben‘ kam ihr in den Sinn. Die Arbeitsmädchen hatten eine halbe Stunde im kalten Regen vor der Baracke gestanden und auf ihren Führer gewartet, bis sie erfuhren, dass sich die gesamte Führungsgruppe in der Nacht davongemacht hatte.Niemand hatte die junge Frau über diese Tatsache informiert. War das die vielgepriesene deutsche Loyalität, die angeblich stärker war als der Tod selbst? Sie waren enttäuscht und fühlten sich von allen verraten. Sie wollten jetzt nur noch nach Hause. Wie lange hatten sie sich insgeheim schon nach diesem Tag gesehnt. Sie begannen in Panik zu geraten. Nur noch weg von hier! Weg von hier! Endlich nach Hause! Wenn es so einen Ort wie Heimat noch gab.

Einige vorbeifahrende deutsche Soldaten nahmen die Mädchen ein Stück weit auf ihrem Lastwagen mit, um sie nicht in die Hände der feindlichen Soldaten fallen zu lassen. Dann war jede auf sich allein gestellt. Karen hatte noch eine Strecke von etwa 60 km vor sich, bis sie bei ihrer Familie sein konnte. Doch die Route führte durch eine umkämpfte Region, vorbei an Dörfern, die bereits von den Amerikanern besetzt waren. Wie eine Partisanin schlich sie durch Wälder und Felder und ging ängstlich um jede Art von menschlicher Siedlung herum. Einmal traf sie auf einen amerikanischen Panzer. Der Kommandant steckte seinen Kopf aus dem Turm und hielt sie an. Der Mann sprach sogar Deutsch. Er hatte sie gefragt, woher sie komme und wohin sie wolle, und als sie antwortete, lächelte er und wünschte der 17-Jährigen „Viel Glück, Fräulein!“. Seitdem hatte sie gar nicht mehr so viel Angst, es sei denn, sie würde einem Neger begegnen; davor hatte sie sehr viel Angst. Sie hatte schon schreckliche Geschichten über diese Schwarzen gehört.

Da! Was war das? Eine riesige Gestalt stand unter dem Weidenbaum am anderen Ufer und schien sie zu beobachten. War das nicht sogar ein schwarzer Soldat? Allerdings konnte sie nichts genau erkennen. Wenn sie doch nur schneller vorankommen würde! Wohin sollte sie jetzt am Ufer gehen, wenn der Gefürchtete auf sie wartete? Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und die Kälte in ihren Gelenken wich der glühenden Hitze. Ihre Arme wurden schwer wie Blei, so dass sie fürchtete, ihr Kleiderbündel nicht mehr halten zu können. Woher kamen die Funken vor ihren Augen? Sie war plötzlich so schwach, so schwach … dann wurde es dunkel um sie herum.

Als sie wieder zu sich kam, hörte sie das laute Rumpeln eines Motors, und sie lag auf der Ladefläche eines fahrenden LKWs. Ein riesiges schwarzes Gesicht beugte sich über sie, und ein Paar freundlicher brauner Augen, in denen das Weiß auffällig blitzte, sah sie fast zärtlich an. Eine schwarze Hand, die ebenfalls zu dem Soldaten an ihrer Seite zu gehören schien, streichelte sanft über ihre Wange. Der schwarze Mann reichte ihr eine Tasse mit heißem Kaffee: „Komm, mein kleines Mädchen, trink!“, hörte sie seine gutturale Stimme sagen. „Oh, du musst trinken, mein Schatz!“. Er stützte sie, indem er einen Arm um ihre Schulter legte. Sie schaute ihn an, erstaunt und misstrauisch. „Ich musste schwimmen, um dein Leben zu retten, sonst wärst du im Fluss gestorben.“ Er machte die Bewegungen eines Schwimmers. Sie versuchte erfolglos, ihn zu verstehen, aber sie verstand nur seine freundlichen Augen. Er half ihr vorsichtig, als wäre sie seine eigene Tochter. „Liebling“, flüsterte er, „mach dir keine Sorgen, hab keine Angst“, und nahm ihre kalten, blassen Hände in seine großen schwarzen. Dabei sah sie zum ersten Mal, dass auch schwarze Menschen blasse Handflächen haben. Das hatte sie nicht gewusst. Danach holte er eine Tafel Schokolade hervor und gab ihr ein Stück davon zu essen. Sie schaute ihn schüchtern an und flüsterte: „Danke.“. Erst jetzt war ihr aufgefallen, dass sie seit Tagen kaum etwas zu essen bekommen hatte.

Als sie nach einem Krümel Schokolade griff, der auf die viel zu große Militärjacke gerutscht war, die sie nun trug, bemerkte sie, dass sie unter der Jacke nackt war. Der amerikanische Soldat, der sie aus dem Fluss gerettet hatte, musste ihr sicher seine Jacke angezogen haben. Sie wurde rot vor Verlegenheit, begriff aber gleichzeitig, warum das wohl geschehen musste.Der Mann lächelte sie aufmunternd an. „Du bist ein reizendes Mädchen. Ich habe auch ein Mädchen, meine Tochter Delila in Alabama. Sie ist 17 und das schönste Mädchen der Welt, lassen Sie mich sehen – ja! Sie sieht aus wie du.“. Gleichzeitig kramte er in seiner Brusttasche nach einem Foto eines hübschen, schwarzen, jungen Mädchens mit Augen wie dunkle Kirschen. „Meine Tochter!“, verkündete er stolz. Dann zeigte er auf sich selbst und sagte, mit seinen weißen Zähnen zeigend und lachend: „Ich bin Daddy Joe, wie heißt du?“. „Karen“, antwortete das junge Mädchen mit leiser Stimme.

Allmählich gewann der Mann ihr Vertrauen. Schließlich fiel sie in einen leichten, unruhigen Schlaf und träumte von dem jungen Mädchen Delila, das seltsame blonde Zöpfe hatte und ihr eine Tafel Schokolade entgegenhielt. Dabei rief Delila ständig: „Liebling, hab keine Angst!“. Sie blieb allein mit Daddy Joe im Lastwagen zurück, wahrscheinlich für ein paar Stunden. Daddy Joe wachte über sie, während sie schlief, bis der Fahrer seinen Kameraden zu sich auf den Beifahrersitz rief: „Morgen früh sind wir in Osterburg. Dann musst du zu Fuß gehen, Karen.“ Mit diesen Worten ließ „Daddy Joe“ sie allein, aber nicht, bevor er ihr noch eine warme Decke gab, in die sie sich einwickeln konnte. Das knatternde Geräusch des Lieferwagens machte das junge Mädchen bald wieder schläfrig, und sie wachte erst auf, als der Morgen dämmerte. Ihre Kleidung lag neben ihr, und sie war sogar einigermaßen trocken. Schnell zog sie sich an. Durch ihren Arbeitsdienst war das Mädchen daran gewöhnt, sich schnell anzuziehen. Das musste sie oft genug tun, wenn die Luftschutzsirene ertönte. In letzter Zeit hatte es Tieffliegerangriffe gegeben, bei denen zwei ihrer Kameraden ums Leben gekommen waren. Vielleicht waren diese schrecklichen Zeiten nun endlich zu Ende.

Kurz darauf hielt der Lastwagen auf der Straße an. Die Soldaten halfen ihr, auszusteigen. Der Jüngere, ein blonder, abenteuerlustiger Typ, wollte sie zum Abschied küssen. Dann blitzten für einen kurzen Moment, wie bei einem Raubtier, zwei Reihen schneeweißer Zähne energisch auf dem breiten, glänzenden Gesicht des schwarzen Amerikaners auf. „Nein! Das ist mein Mädchen!“. Mit einem Schwung setzte er sie auf der Straße ab und lachte ihr fröhlich zu. „Bye bye, Darling!“. „Vielen Dank, Daddy Joe“, antwortete Karen. „Was hätte ich nur getan, wenn du nicht mitgekommen wärst!“. Er winkte ihr danach noch lange zu. Dann verschwand der Armeelaster rasselnd hinter einer Straßenbiegung.

 

IN ENGLISH CAPTIVITY von Gerhard Lange

Die letzten Stunden vor meiner Gefangennahme waren noch recht turbulent. Auf einer Wiese nahe der niederländischen Grenze hatte unsere Gruppe in Schützenlöchern Stellung bezogen, wurde aber am 28. März von den vorrückenden britischen Truppen überholt und abgeschnitten. Außerdem war in einer Entfernung von etwa 300 Metern eine britische Panzereinheit vorgerückt. Als einige der Panzer in unsere Richtung fuhren, hatten wir Angst, dass sie uns in unseren Schützenlöchern entweder mit Flammenwerfern oder durch Überrollen und Schwenken zerstören und an Ort und Stelle begraben würden. Von beiden Möglichkeiten hatten wir schon von anderen Abteilungen gehört.

Wir waren 8 Mann, jeder in einem Schützenloch. Wir konnten uns durch Schreien verständigen. So saß jeder von uns und musste für sich selbst mit seinen schwierigen Gefühlen fertig werden. Wir waren keine wirklich erfahrenen Frontsoldaten, sondern hatten nur schnell die grundlegendsten Dinge gelernt. Wir hatten kein Benzin zum Fahren und waren in den letzten Tagen große Strecken marschiert. Und auch der eine deutsche Panzer, den wir zwei Tage zuvor gesehen hatten, musste wegen Treibstoffmangels zurückgelassen werden. Zwei von uns hatten noch eine Panzerabwehrwaffe. Würde man sie im Notfall einsetzen? Zum Glück für uns trat diese Situation nicht ein, die britischen Panzer wichen aus. Dafür wurden wir mit feindlicher Infanterie überschwemmt, von der eine Abteilung begann, unseren Sektor nach deutschen Soldaten zu durchkämmen.

Die beiden jungen englischen Soldaten, die auf mein Schützenloch zukamen, hatten mindestens genauso viel Sorge wie ich. Wir ließen unsere Waffen liegen und wurden gemeinsam auf eine Straße geführt, auf der erwartungsgemäß eine schier endlose Kolonne britischer Fahrzeuge darauf wartete, weiter vorzurücken. Wir waren zwar nur eine kleine Gruppe, aber es gab sehr viele weitere dieser kleinen Gruppen, die auf einem mit Stacheldraht umzäunten Stück Land zusammengeführt worden waren. Ein englischer Offizier rief mit Namen oder Nummer die verschiedenen deutschen Einheiten auf, die sich in unserem Sektor befanden. Sie kannten die genauen Informationen und waren auf uns vorbereitet. Für uns war es sehr deprimierend.

Ich wurde hier hineingeschoben, wieder mit anderen Kameraden unserer Einheit. Insgesamt waren wir wohl etwa 100 Mann. Am Abend bekamen wir noch mehr zu essen: Corned Beef, eine Dose, dazu eine Packung Kekse und Tee. Getrunken wurde aus dem unteren Teil der Corned-Beef-Dose. Wir befanden uns auf einer feuchten Wiese, die zum Liegen nicht geeignet war. Ich sehe noch vor mir den großen Kreis der schlafenden, stehenden Männer. Jeder legte seine verschränkten Arme auf den leicht gebeugten Rücken des Vordermannes. Keiner konnte umfallen, dafür waren es zu viele. Wir hatten unsere Müdigkeit sicher nicht ausgeschlafen, als sich der Kreis am frühen Morgen auflöste…

Eine Kolonne britischer Lastwagen brachte uns nach Zedelgem, einem kleinen Ort bei Brügge in Belgien, in ein riesiges Lager für Tausende von Gefangenen. Im Empfangszentrum am Eingang bekamen wir eine Wolldecke sowie eine Essschüssel, als wir unser neues Zuhause bezogen. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir auch etwas Stroh bekommen haben. Das Schlafen auf dem Betonboden war allerdings nicht sehr bequem und wir wurden nicht wirklich verwöhnt. Da es auch noch kalt war, bildeten wir kleine Schlafgruppen; das heißt, wir schliefen jeweils mit ein oder zwei anderen zusammen. Jeder hatte nur eine Decke, also legten wir eine Decke unter uns und deckten uns mit den restlichen Decken zu.

Das Hauptproblem war aber nicht das Schlafen, sondern die Verpflegung. Mittags wurde im Gebäude ein Kessel mit Suppe für jeweils 25 Mann angeliefert. Zum Servieren saßen wir dann im Kreis herum, um uns von der gerechten Verteilung zu überzeugen. Jeder erhielt eine halbe Schüssel voll mit einer dünnen Flüssigkeit, dazu zwei kleine oder mittelgroße Kartoffeln. Wir waren alle hungrig wie die Wölfe und aßen unsere Suppe innerhalb weniger Minuten komplett auf. Zum Abendessen gab es für jeden ein Viertel eines leicht gebackenen Quadrats Weißbrot, das man leicht falten und zu einer Scheibe zusammendrücken konnte, und dazu gab es Tee, sonst nichts. Das Brot war natürlich auch in wenigen Minuten gegessen und vergessen.

Wir wurden allmählich so, dass wir nicht mehr schnell aufstehen konnten, ohne dass uns schwindlig wurde. Von Zeit zu Zeit wurden einige Facharbeiter angefordert. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass bekannt wurde, dass Bäcker benötigt würden. Mein Kumpel, mit dem ich damals zusammen war, hatte irgendwann auch Bäcker gelernt. Er überraschte mich mit seinem freudigen Ausruf: „Da gehen wir zusammen hin!“. „Bist du verrückt?“ Ich antwortete: „Ich habe noch nicht einmal eine Bäckerei von innen gesehen!“, aber er sagte: „Das schaffen wir schon.“

An den folgenden Tagen lernte ich vormittags, nachmittags und abends solche Themen wie Sauerteig usw. Für mich war es sicher ein Glück, dass daraus nichts wurde; aber für den Anfang ist es bezeichnend, dass ich schon auf der Liste als Bäckerlehrling stand.

Ende April wurde bekannt gegeben, dass das gesamte ehemalige fliegende Personal und die Marine nach England verlegt werden sollten. Offiziell gehörte ich tatsächlich noch zum fliegenden Personal, wie die Flügel am Unterarm meiner Uniform zeigten. An dem Abend, an dem wir mit einem Truppenschiff hätten auslaufen sollen, herrschte ein so starker Sturm, daß die gesamte Schiffahrt auf dem Kanal eingestellt wurde. Kurz nach Mitternacht – der Sturm hatte sich etwas gelegt – legten wir trotzdem ab.Ganz vorne, an der Gangway, über die wir auf das Schiff marschiert waren, am befestigten, nun schräg ansteigenden Bug, standen die Toiletteneimer. Ich saß, oder hockte, fast mittschiffs. Man sagte sich, dass es auf einem schlingernden Schiff vorne wirklich furchtbar ist. Ich bemerkte auch, dass kaum einer von denen, die dorthin wollten oder mussten, zu uns zurückkam. Da wir viele Stunden unterwegs waren, mußte ich schließlich auch nach vorne gehen. Es war wirklich schrecklich: das auf- und abschwankende Schiff in schwerer See, der Anblick der Unglücklichen, die es nicht geschafft hatten, zurückzukehren, und der entsetzliche Gestank. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Mit großer Willensanstrengung gelang es mir noch, zurück zu taumeln. Ich kehrte nicht an meinen alten Platz zurück. Auf halber Strecke lag ich auf dem Unterdeck. In der Zwischenzeit waren die Luken auf dem Oberdeck geöffnet worden. Die frische Luft brachte etwas Erleichterung und ich erholte mich wieder.

Es muss wohl am frühen Vormittag gewesen sein, als wir an der Themsemündung ankamen, um die Tilbury Docks zu erreichen. Nun durften wir an Deck gehen, bzw. kriechen. Was für ein Bild! Die Decks der Schiffe um uns herum waren voll von hungrigen, etwas ungepflegt aussehenden Gestalten, mit kreidebleichen Gesichtern, die im kalten Morgenwind froren. Nicht weit vom Pier entfernt wartete ein Zug, der uns zum Londoner Auffanglager am Kempton Park, der großen Pferderennbahn, brachte. Auf dem Gelände um die Rennbahn standen viele Zelte für die Neuankömmlinge vom europäischen Kontinent. Da es im Zug wieder Corned Beef und Kekse gab, gingen wir im Camp zum ersten Mal zu den Duschen. In den Duschen gab es richtige schäumende Seife; Seife, wie wir sie noch aus der Zeit vor dem Krieg kannten. Sie war frisch und noch nicht ausgetrocknet. Vor den Duschen waren wir registriert worden und hatten jeder einen englischen Armeesack, eine künstlich gefärbte englische Uniform (mit großen verschiedenfarbigen Markierungen, jeweils auf dem Rücken der Bluse und auf den Hosenbeinen aufgenäht) sowie Unterwäsche erhalten.

Nach dem Duschen zogen wir unsere frische Unterwäsche und die neuen Uniformen an und packten die alten, inzwischen gereinigten, in den Seesack. Wir fühlten uns plötzlich wieder wie Menschen, ein angenehmes, lange vermisstes Gefühl. Fast hätten wir die vergangene Woche schon vergessen können, wenn wir nicht trotz Corned Beef und Keksen nach dem überanstrengenden und ermüdenden Duschen einen Riesenhunger gehabt hätten.Man sagte sich, dass es eine warme Mahlzeit geben würde. Es war schön. Wir trugen erst einmal unsere Sachen zu den zugewiesenen Zelten und gingen dann zu einer Hütte, vor der sich eine große Traube von Männern an die schmale Tür drängte. Hier, so hieß es, wurde warmes Essen ausgegeben. Es kamen aber immer nur kleine Gruppen von fünf oder sechs Personen auf einmal heraus und eine entsprechende Anzahl wurde dann auch hineingelassen. Der einzige Grund für die langsame Bedienung war der nicht übermäßig große Speisesaal. Wir fanden einen Platz. Auf den Tischen standen Terrinen mit heißer Suppe, in der sich neben Gemüse und Kartoffeln auch viel Fleisch befand. Diese Terrinen wurden regelmäßig nachgefüllt. Wir bekamen Messer und Löffel und konnten essen, bis wir satt waren. Es war dort ganz, ganz zufriedenstellend.

Am nächsten Morgen wurden wir in Gruppen eingeteilt, die von Kempton Park aus zu Lagern in verschiedenen Teilen Südenglands gebracht werden sollten. Zu meiner Gruppe gehörten noch etwa zwanzig. Am späten Vormittag fuhren wir in Armee-LKWs in östlicher Richtung, ausgehend von einer stehenden Position, die die Sonne ausblendete. Die Landschaft war leicht hügelig und wurde immer einsamer. Irgendwann zweigte unser LKW von der Kolonne ab; wir fuhren nun entlang einer Hügelkette. Plötzlich bogen wir von der Straße ab und hielten knapp 20 Meter vor einem großen Tor. Wir waren im Springhill Camp in den nördlichen Cotswolds angekommen. Vor uns lag ein großes Gelände mit etwa 30 Hütten. Hier sollte ich die nächsten eineinhalb Jahre verbringen.

Mit dem Rad von Freiburg bis Rotterdam

Liebe Freunde!

Ich bin gestern Abend mit dem Zug glücklich von meiner Rhein-Radreise zurückgekehrt. Insgesamt bin ich mit allen Umwegen und Irrungen 1035 Kilometer von Freiburg im Breisgau bis Rotterdam Hauptbahnhof. geradelt. Kalter Gegenwind und einen platten Reifen bei strömenden Regen gleich bei Neuf Brisach in der Einöde des französischen Elsaß ließen bei mir Gedanken aufkommen, ob ich diese Fahrt nicht gleich abbrechen sollte. Aber die nächsten Tage nieselte es nur und bei Sonnenschein kam ich in Straßburg an.

Ich habe viel gesehen und gelernt. Der Rhein ist ein Arbeitsfluß und die Landschaft am Rhein ist oft Industrielandschaft. Hier schlägt das wirtschaftliche und kulturelle Herz Deutschlands. Das romantische Rheintal zwischen Koblenz und Mainz ist ausgefüllt mit Verkehrswegen. Zwei Bahnlinien und zwei Bundesstraßen und lokale Straßen und mittendrin kleine Städte wie Bacharach und Rhens sind eingezwängt zwischen den Schieferwänden des Rheintals. Hinter Bacharach wurde die Bundesstraße 9, die mich vom Anbeginn begleitete aufgeständert und ich fuhr unter ihr und hart rechts neben mir zwei Gleise der Bundesbahn, auf der in paar Minuten Abstand in beiden Richtungen Containerzüge vorbei donnerten. Auf dem Rhein eine ununterbrochene Kette von Rheinkähnen.

Die Dome von Speyer und Worms habe ich gesehen und die Gräber etlicher Staufenkaiser einen Besuch abgestattet Einen Gottesdienst in einer freien evangelischen Gemeinde mitgefeiert und den Kölner Dom besichtigt. Eine Flucht vor dem Regen in dem Schauraum einer Winzergenossenschaft endete noch drei Weinproben mit einer Bestellung von 36 Flaschen Müller-Thurgau Jahrgang 2005, die ich per Spedition meiner erstaunten Frau auf dem Hals schickte. Bei einem Winzer in einem Dorf vor Mainz verbrachte ich einen angenehmen Abend im Weinkeller mit dem Seniorchef, der ein ausnehmend fröhlicher Mensch war und mich an eine Figur aus dem „Fröhlichen Weinberg“ erinnerte.

In der hochmodernen Düsseldorfer Jugendherberge habe ich für ein Einzelzimmer mit Frühstück 40,60 € bezahlt.Waren das nicht mal 79,35 DM? Die Betten durfte ich selber beziehen und Handtücher und Fernseher waren auch nicht. In Duisburg waren Stahlwerke und Hochöfen und Industriewerke weit zu umfahren und in Holland hieß der Rhein nun Waal und ab den Zufluß der Maas dann Herwegen. Das wäre mal eine 1 000 000 Euro Frage bei Günther Jauch. Das Land in Brabant liegt 6 Meter unter dem Meeresspiegel und Deiche und Flüsse und Gräben sind überall. In dem Papendrecht bezahlte ich 96 € für ein Einzelzimmer und in dem Dorf Stürzenbach fiel ich vom Rad und kullerte kopfüber den halben Deich runter, was ich mit Hautabschürfungen bezahlte. Einen Umweg bis fast nach Hertogenbosch machte ich, da ich den Waal mit dem Waal-Maaskanal verwechselte.

Wenn ich nach dem Weg fragte, bekam ich oft eine ausführliche Antwort von holländischen Schnellsprechern, von der ich nichts verstanden hatte. Natürlich kam der kalte Wind immer aus Westen und so bin ich 15 Tage nur in Pullover und Jacke gefahren. Trotzdem fühle ich mich fitter als vor der Reise. Es hat wieder mal Spaß gemacht, auch wenn die Reise pro Kilometer 1€ gekostet hat.

Kriegsende in Hamburg Von Elfriede Bock

Bei Kriegsende 1945 war ich 16 Jahre alt. Ich lag mit Lungenentzündung im Krankenhaus Wandsbek-Gartenstadt. Ich erinnere mich nur vage daran. Die letzten Wochen vor der Kapitulation war ich öfter zusammengebrochen vor Hunger, Kälte, Nässe und totaler Erschöpfung durch die allnächtlichen Bombenangriffe. Wir mussten jede Nacht raus. Der Weg in unseren Bunker an der Dorotheenstraße war ein einziger Hindernislauf über Straßenbarrikaden, die als „Panzersperren“ dienen sollten. Als ob die noch geholfen hätten!

In Panik hörte ich die Radio-Meldungen über die Zerstörung von Berlin mit Stalinorgeln und Flammenwerfern! Wir hörten den ständigen dumpfen Geschützdonner aus der Gegend um Harburg herum und erwarteten nun auch bei uns stündlich das gleiche Schicksal. Wer Stalinorgeln und Flammenwerfer einmal in der Wochenschau gesehen hatte, konnte sich ausmalen, was uns bevorstand. Es hatte ja so kommen müssen! Hoffentlich würde unser Statthalter, der Hamburger Gauleiter Kaufmann unsere Stadt den Alliierten kampflos übergeben! Gegen den Willen Adolf Hitlers!? Der hatte sich ja vor einigen Tagen in seinem Wahnsinn das Leben genommen und sich damit der Verantwortung für sein „geliebtes Volk“ entzogen. Das hätte er man schon viel früher tun sollen.

Die Straßensperren hatten mir die letzte Kraft genommen. Ich war so schwach auf den Beinen und konnte den Weg über die meterhohen Hürden bald nur noch kriechend bewältigen. Und das fast jede Nacht ein- oder zweimal hin und zurück. Bis ich schließlich einmal liegen blieb und zunächst nicht wieder aufstehen konnte. Am nächsten Tag mußte ich ins Krankenhaus – zu Fuß! – nach Wandsbek Gartenstadt. Meine Stiefmutter begleitete mich. Drei Stunden hat es gedauert, bis wir dort ankamen. Bahnen oder Autos konnten wegen der Straßensperren ja nicht mehr fahren. Meine Stiefmutter war ebenfalls am Ende ihrer Kräfte.

Wir wohnten damals am Krohnskamp, gegenüber der Matthäuskirche, zu dritt auf einem Zimmer: Mein Vater, meine Stiefmutter und ich. Meine Schwester und meine Mutter waren bei Verwandten in Augsburg geblieben. Ich wäre auch gern dort geblieben, sie hatten weniger Fliegerangriffe und mehr zu essen. Aber ich war Lehrmädchen in Hamburg und musste zurück. Mein Vater war bei der Polizei nachts im Einsatz.

Wenn meine Stiefmutter und ich endlich im Bunker ankamen, waren bereits alle Plätze besetzt. Wir mussten stehen, und ich konnte nur keuchen und weinen. Oft gaben meine Beine nach. Das Krankenhaus war deshalb eine Erlösung für mich. Ich war so dankbar! Dort ging es mir auch gleich besser. Wir Kranken bekamen gute Butter und Weißbrot, viel Milch und Grießbrei, und am frühen Abend wurden wir in unseren Betten in den Keller gebracht. Das Pflegepersonal war gut zu uns. Sie legten mich mittags sogar in die pralle Maiensonne. Das jedoch ist verkehrt für Lungenkranke, ich bekam einen Sonnenstich. Das war übel, machte meine Lunge wieder krank, und ich musste sehr viel von dem guten Essen erbrechen, was mein Körper doch zum Aufbau gebraucht hätte.

Am Tage der Kapitulation hörten wir durch die geschlossenen Krankenhausfenster die alliierten Panzer in Hamburg einrollen. Aber es fiel nicht ein Schuss! Die Bevölkerung hatte striktes Ausgehverbot, Türen und Fenster mussten fest verschlossen bleiben. Niemand durfte sich am Fenster sehen lassen, niemand hinausgucken! Ich erinnere mich, dass zwei englische Soldaten mich am nächsten Tag auf eine Trage legten und wir alle in das Barmbeker Krankenhaus umquartiert wurden. Das schöne Krankenhaus Wandsbek-Gartenstadt wurde ab diesem Tage Lazarett für die Alliierten. In Barmbek bekamen wir Kranke kaum noch Zuwendung. Die Krankenschwestern wurden abgezogen, der Küchenbetrieb eingeschränkt. Unsere „Befreier“ hatten nun Vorrang! Aber wir hatten keine nächtlichen Angriffe mehr, wenn uns auch die geringe Lebensmittelzuteilung bös‘ zusetzte.

Als ich entlassen wurde, bekam ich Hungerödeme. Aber wir konnten nachts durchschlafen, keine Fliegerangriffe mehr, keine Nachtwanderungen in den Bunker.

Der Winter 1945/46 war der schwerste, den wir kennen lernen sollten. Wir hatten im Büro nur „Rollglas“ vor den Fenstern, und ich schrieb mit zusammengeflickten „Fausthandschuhen“ auf der eisernen Schreibmaschine. Bald verheizten wir das Linoleum in kleinen Stücken im Kanonenofen, weil wir sonst erfroren wären.

Inzwischen wohnten wir in einer großen Souterrainwohnung, hatten aber keine Feuerung. Mein Vater musste mit anderen nachts als „Kohlenklau“ tätig werden. Es war aber nicht die Bahn-, sondern die Military Police der Engländer, die die frierenden Menschen am Kohlenklauen hindern sollten. Die Züge kamen nicht einfach angerollt und blieben auf den Geleisen stehen zur Selbstbedienung, man musste hinaufklettern während der Zug noch fuhr! Die Leute wussten ganz genau, wo der Zug langsam an ein Signal heranrollte oder gar stehen blieb, und wann! Da war z.B. der Verschiebebahnhof in Rothenburgsort. Dann sprangen sie auf und kletterten mit dem leeren Sack hinauf. So passierte es, daß schon mal einer beim Anrücken der Lok hinunterstürzte auf die Geleise oder zwischen die Puffer geriet und nicht mehr weglaufen konnte. Die MP war angehalten, die Leute zu warnen und notfalls sofort zu schießen. Auch Hunde wurden eingesetzt! Und Scheinwerfer. Es waren viele Schuljungen dabei! Wenige konnten mit dem gefüllten Sack wieder nachhause rennen. Aber manche hatten eben Glück, und die waren maßgeblich für die anderen, um zu überleben.

Morgens, wenn ich aufwachte, war in meinem Zimmer das Schwitzwasser an den Wänden neben dem Bett gefroren und vor meinem Mund hing Eis an dem Schaffell, das mein Vater besorgt hatte und mir abends über meine Bettdecke legte, damit ich nicht über Nacht erfror.

Erst als wir schon fast verhungert waren, durften wir in der Berufsschule an einer Schwedenspeisung teilnehmen. Es gab einmal die Woche dicke, süße Suppe oder Erbsensuppe. Aber wir waren jung und im Wachstum, und unser Hunger war so groß, dass wir alles aßen, was nur irgendwie essbar schien. Steckrüben bekamen wir reichlich, morgens, mittags, abends, roh, gekocht oder gebraten. Eine Delikatesse war Milchpulver mit Wasser angerührt. Das Beste war noch die Wurstbrühe, die meine Stiefmutter beim Schlachter holen konnte, ich glaube, einmal die Woche ein Kochgeschirr voll für uns drei Personen.

Die Engländer montierten in Hamburg in den Industriebetrieben alles ab, was noch heil geblieben war und was sie gebrauchen konnten: „Reparationen“ nannte man dies. Und nun wollten sie uns aushungern……!

Und trotz all der Nöte, wir waren so dankbar, das sie uns nun nicht mehr bombardierten, dass wir nachts nicht mehr um unser erbärmliches Leben rennen mussten. Ich erinnere mich noch gut, wie ich am Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf den ehemaligen Adolf-Hitler-Platz, nun Rathausmarkt genannt, ging. Die Lunge war wieder gesund, ich schaute mich um, die Sonne schien, da überkam mich ein Hochgefühl: „Nun kann mir nichts mehr geschehen, alles andere werde ich durchstehen, denn das ganze Leben liegt noch vor mir! Nur nie im Leben wieder Krieg und Terrorangriffe!“

 

 

 

Kriegsende in Hamburg von Klaus Hückel (Jhrg. 1934)

Mitte März 1945 kam ich – damals 11 Jahre alt – von Hamburg aus in ein KLV-Lager nach Kellenhusen an der Ostsee. „Haus Olga“, eine grössere Pension, die mit Etagenbetten ausgerüstet war. Unser Jungzugführer war ein Fünfzehnjähriger. Dieter. Wie konnte man bloß Dieter heißen! Rosiges Milchgesicht, aber Schipporden! Das war ein Ordensband, das man fürs Panzergrabenausheben bekam. Schwarzweißorangefarben. Sah fast wie das EK zwo aus. Darum beneideten wir ihn schon, aber Respekt hatten wir kaum vor ihm. Bei einem Ausmarsch schlug einer von uns immer mit der Hand auf einen seitlich verlaufenden Zaundraht. Unser Milchgesicht befahl ihm, das zu unterlassen. Aber der kümmerte sich nicht darum! Das war das erste Mal, daß ich erlebte, wie einem Befehl nicht gehorcht wurde. Eigentlich nicht zu fassen! Befehlsverweigerung? Bei Soldaten gab es da nur Standgericht. An die Wand gestellt und über den Haufen geschossen.

Die Front rückte dichter heran. Vor allem die Sowjets näherten sich bedenklich der Lübecker Bucht. Wir hungerten wie verrückt. Das Essen bestand morgens aus Buttermilchsuppe, die wir mithelfen mussten zu kochen. Da standen wir Steppkes vor diesem riesigen Hotelküchenherd, auf ihm ein enormer Kessel mit Buttermilchsuppe. Und wir rührten – auf Zehen stehend – an der Oberfläche dieser Suppe herum. Natürlich brannte die an. Und klüterig wurde sie auch noch. Fraß.. Mittags und abends gab es meistens Rote Beete. In Scheiben, in Würfeln, gemust. Fraß. Kaum gesäubert und mit allen faulen Stellen – es war ja Ende Winter! Entsetzlich. Um unseren Hunger zu stillen, brachen wir Zuckerrübermieten auf. Die jungen Zuckerrüben waren essbar, die großen dagegen – bäh! Fraß. Lieber hungern. Bei einem Höker im Dorf konnte man Zwiebeln und künstlichen Pfeffer ohne Lebensmittelmarken bekommen. Das schmeckte ja geradezu köstlich!

Viele Schüler, der Ort wimmelte von KLV-Lagern, flüchteten allerdings. Morgens gegen 4 Uhr hauten sie ab, marschierten zum nächsten Bahnhof, nach Lensahn, und fuhren von da mit einem Frühzug über Lübeck nach Hamburg. Oder aber ab Richtung Dänemark. Wenn die Lagerleitungen dann morgens die Zimmer leer vorfanden, waren die Jungs längst in Sicherheit, also da, wohin sie wollten.

Hamburg war zur Festung erklärt worden. Aha, allmählich würde es ernst werden. Wir sahen Wehrertüchtigungsfilme und Wochenschauen. HJ-Regimenter im Einsatz. Rauf auf den feindlichen Panzer, Deckel aufgerissen, Handgranate hineingeworfen. Peng – alle Russen hopps. So einfach würde das gehen. Das würden auch wir schaffen. Klar. Wann wir wohl endlich gerufen würden? Die Bolschewiken rückten immer näher. Die Bauern schlachteten schon mal ihr Vieh. Nun gab es plötzlich jede Menge Fleisch. Gulasch, Frikadellen, Braten. Auf Beilagen konnte man jetzt gut verzichten. Rote Beete ade! Gelegentlich erlebten wir Luftkämpfe mit. Eigenartigerweise habe ich nie den Verlust einer deutschen Maschine gesehen. Aber etliche Tommies, die in die Ostsee stürzten. Sieg heil nach wie vor!

Eines späten Nachmittags hieß es, am Abend würde ein Bus nach Hamburg fahren. Wer wolle, könne mit. Ab in die Heimat. Ich stand vor einer schweren Frage. Schließlich hatten meine Eltern mir bei der Abreise aus Hamburg zu verstehen gegeben, daß ich bloß in Sicherheit bleiben sollte. Dennoch – alle fuhren, also fuhr auch ich. Mit einem reichlichen Vorrat an Frikadellen. Nachts schlich sich der Bus bei sternklarem Himmel und ohne Beleuchtung die Landstraße entlang. Immer schön unter Bäumen. Aber ein feindliches Flugzeug hatte uns wohl doch entdeckt und kreiste um uns herum. Alle Mann raus und in geduckter Haltung im Straßengraben weg vom Bus. Klasse. Soldaten im Schützengraben! Irgendwann verlor der Feindflieger dann wohl das Interesse an uns und zog ab.

In Hamburg angekommen erwischte ich frühmorgens die Straßenbahn Linie 16 Richtung Hagenbecks Tierpark. Keine Fensterscheiben. Alles mit Holz abgedichtet. Abgesplitterte Email-Schilder „Beim Niesen, Husten, Spucken bediene Dich des Taschentuchs“ und am Ausgang „Linke Hand am linken Griff“.. So trudelte ich Ende April 1945 wieder bei meinen Eltern ein, die dann doch sehr froh waren, daß ich mitgefahren war. Mit unseren Nachbarn hörten wir im Radio vom Tod Adolf Hitlers, unseres heißgeliebten Führers, der in heldenhaftem Kampf gegen den Bolschewismus gefallen war. Ich stellte mir vor, wie Hitler mit Handgranaten in den Händen auf irgendwelchen Panzersperren kämpfte und vom Feind erschossen wurde. Bei dem Gedanken heulten wir alle schnapslange Tränen. Was sollte nun bloß werden?

Aber erst einmal ab zu unserem Bunker, den wir jetzt immer abends aufsuchten. Die Front war so nahe, daß ein Fliegeralarm nichts mehr genützt hätte. Wir brauchten fast eine Viertelstunde bis zum Bunker. Alles Wichtige lag schon da. Nur noch, was erneuert werden musste, transportierten wir dorthin. Z. B. Verpflegung. Und daran war in diesen Tagen so gut wie kein Mangel! Gauleiter Karl Kaufmann hatte die Lebensmittellager geöffnet. Es gab jede Menge Sonderrationen. Kiloweise Fleisch und haufenweise Butter beispielweise. Wir hatten zum Glück aus Kronach /Oberfranken(meinem ersten Aufenthalt in der KLV) etliche Steinguttöpfe mitgebracht. Darin konnte man Butter, extra kräftig nachgesalzen, lange aufbewahren. Noch im Sommer hatten wir davon. Allerdings leicht ranzig.

Am Abend des 3. Mai waren wir wieder auf dem Weg zum Bunker, als wir auf der anderen Straßenseite eine Gruppe von etwa dreißig Menschen vor einem geöffneten Fenster stehen sahen. Man hörte aus dem Radio Staatssekretär Ahrens, Onkel Baldrian genannt wegen seiner immer beruhigenden Kommentare zur Luftlage, der eine Ansprache Karl Kaufmanns ankündigte. Und dann hörten wir Kaufmann. Hamburg habe kapituliert. Die Briten würden am nächsten Tag in Hamburg einmarschieren. Ausgehverbot mit ganz wenigen Ausnahmen. Noch wenige Tage zuvor Heulen und Zähneklappern, weil Hitler gefallen war. Und jetzt? Nichts. Weder Trauer noch Entsetzen, aber auch keine Freudenausbrüche. Resignation, Erleichterung bestenfalls.Wir machten kehrt und schliefen ohne Bombengefahr in den Frieden hinein. Dummerweise hatte ich doch tatsächlich noch unsere Verbandstasche verloren. Zu ärgerlich, fast neu. Aber andererseits – sie war auch überflüssig geworden! Zum Glück! Zum Glück? Naja….

Am nächsten Tag war herrliches Frühlingswetter. Und alles still. Keine Straßenbahn, die sonst nur wenige zig Meter von uns entfernt vorbeizufahren pflegte. Kein Fliegeralarm. Stille – und das nicht einmal Stille vor dem Sturm. Dabei hatten wir doch die ganzen Tage mit einer Schlacht um Hamburg gerechnet. Nach meiner Rückkehr aus Kellenhusen hatte ich mit einigen Mitschülern noch die Verteidigungsmöglichkeiten in unserer näheren Umgebung erkundet. Klar, da ging es: Die Methfesselstraße war an der Kreuzung zum Eidelstedter Weg durch eine Panzersperre dicht gemacht. Tiefer Graben und Doppel-T-Träger. Da kam kein Panzer durch. Und auf der linken Seite der Kaiser-Friedrich-Straße (heute Hagenbeckstraße) gab es ein Grundstück, das mit einer hohen Mauer umfasst war, aber eine Öffnung hatte. Da könnte man doch stehen, bewaffnet mit ner Panzerfaust. Und wenn dann etwa ein Panzer – aus Richtung Hagenbeck kommend – vor der Panzersperre halten müßte, würde man den ganz bequem abknallen. Daran muß ich immer denken, wenn ich mal wieder den Film „Die Brücke“ sehe: Wir waren so eingestellt! Die geistige „Vorbereitung“ vor allem im KLV-Lager in Kellenhusen hatte gewirkt.

Schon nach kurzer Zeit wurde das Ausgehverbot etwas gelockert. Mit meinem Braunhemd, jetzt natürlich blau eingefärbt, machte ich einen ersten Erkundungsausflug. Ecke Eidelstedter Weg und Methfesselstraße vor der Kneipe „Tüxen“ lagerte eine Gruppe britischer Soldaten. Baumlang. Dagegen waren ja unsere SS-Leute geradezu klein! Und dann deren Panzer! Wie Einfamilienhäuser. Aber auch ganz kleine Kettenfahrzeuge, in denen der Fahrer liegen musste, sausten wie verrückt durch die Gegend. Und dann erst die Jeeps. An den Seiten offen, ein Bein lässig raushängen.

Die Besatzungszeit war am Anfang geprägt von allen möglichen Bekanntmachungen der Alliierten. „I, Dwight D. Eisenhower…..“ Komische Namen. Montgomery. Sah eigentlich ganz gut aus, fast lustig. Ich kann mich nicht entsinnen, daß es irgendwelche Abneigungen gegen die feindlichen Truppen gab. Auch unser Nachbar, alter Kämpfer aus den Zwanzigerjahren, rechter Arm im Ersten Weltkrieg ab, noch geheult bei Hitlers Tod, jetzt ganz gefasst.

„This is Radio Hamburg, a station of the British Military Government“. Und später „BFN“. Jazz-Musik. Noch vor wenigen Wochen verboten. Jetzt Benny Goodman und Louis Armstrong und Glenn Miller. Und dann erst die Andrew Sisters mit „Bei mir bist Du scheen“.. Was war deutsche Tanzmusik dagegen? Theo Mackeben und Franz Grothe? Rudi Schuricke, genannt Schwulicke? Nein, jetzt gaben „Chattanooga Choo Choo“ und „Moonlight Serenade“ den Ton an. Ein Ansager des BFN, des British Forces Network in Germany, wurde schnell auch bei deutschen Hörern bekannt und beliebt, Chris Howland. Seine Popularität riet ihm später, zum NWDR, dem Nordwestdeutschen Rundfunk, zu gehen. Und von dort her vermittelte er uns dann Jazz in allen Variationen, dieser Mr. Pumpernickel. Deutscherseits wurde allerdings eine Gruppe unglaublich populär, die sich King-Cole-Trio nannte (nicht zu verwechseln mit dem späteren Nat King Cole – Trio) und „Wasser ist zum Waschen da, falleri und fallera, auch zum Zähneputzen kann man es benutzen“ und vom „Russischen Salat“ sang. Leider verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war. Merkwürdig.

Nachrichten von Konzentrationslagern. Naja, das war natürlich die übliche Lügenpropaganda. Das konnte man ja nun wirklich nicht glauben. Zehntausende, Hunderttausende ermordet. Wer’s glaubt…..! Die wollten uns wohl für dumm verkaufen! Reeducation. Irgendwann gab es die Anordnung, daß sich jeder Erwachsene Filme mit Aufnahmen aus Konzentrationslagern anzusehen hätte. Der Filmbesuch würde in der Stammkarte, die zum Bezug von Lebensmittelkarten nötig war, vermerkt werden. Kein Vermerk – keine Lebensmittelkarten. Aber schließlich verlief auch das im Sand.

Tja, nun war ja Frieden. Aber wie würde die Zukunft aussehen? Wie würde es z. B. um „Brennstoffe“, also Kohlen, stehen? Die Aussichten waren schlecht. Klar, die Besatzungsmächte würden natürlich zunächst einmal für sich selbst sorgen und unsere Bergwerke ausplündern. Also – erst mal die Straßenbäume abgesägt, und dann ab in die Wälder und Holz geklaut. Für Eimsbüttel bot sich das Niendorfer Gehege an. Meine Eltern lehnten das Holzklauen jedoch ab. Diebstahl blieb Diebstahl. Aber eines Tages zogen meine Mutter und ich zusammen mit einem Nachbarsjungen, der einen kleinen Bollerwagen hatte, doch zum Niendorfer Gehege. Oft wurden von den Bäumen ja nur die Stämme geklaut. Die Krone blieb dann liegen. Und davon nahmen wir uns mit, soviel wir konnten. Mein Vater war noch immer nicht beeindruckt. Schließlich aber konnte ein Nachbar, der über eine richtig große Bandsäge sowie über Keile und Vorschlaghammer verfügte, ihn denn doch überreden. Als wir aber dann am nächsten Tag beim Niendorfer Gehege ankamen, war der Zugang durch Polizei gesperrt. Ein junger Mann, der sich als Revierförster vorstellte, bot nur an, daß wir in vierzehn Tagen zum Stubbenroden kommen könnten. Und das haben wir gemacht. Mein Vater morgens in aller Herrgottsfrühe hin zum Gehege. Meine Mutter und ich mittags zur Verstärkung nachgerückt. Mit Essen. Bohnenmehlsuppe. Ausgebratene Mettwurst zur Geschmacksverbesserung darüber. Unsere Vorräte an Lebensmitteln waren noch beachtlich.

Das Stubbenroden war Schwerstarbeit. Vor allem, weil man – trotz Bohnenmehlsuppe – irgendwie zu wenig in den Knochen hatte. Und mein Vater, von Beruf Buchhalter, war ja an so schwere körperliche Arbeit schließlich gar nicht gewöhnt. Und gesund war er sowieso nicht. Meine Mutter hatte natürlich auch nicht gerade besonders viel „Knöf“, ganz zu schweigen von mir mit meinen elf Jahren. Aber wir hielten durch und machten auf den Revierförster offenbar einen so guten Eindruck, daß er meinem Vater anbot, als Waldarbeiter bei ihm anzufangen. Hurra – die Brennstoffprobleme waren damit gelöst. Zwölf Festmeter oder achtzehn Raummeter Holz pro Jahr als Deputat und außerdem jeden Tag soviel Holz, wie mein Vater auf seinem Fahrrad transportieren konnte. Er quälte sich schrecklich ab.

In der folgenden Zeit hatten wir so immer viel Besuch, der sich bei uns aufwärmen oder backen wollte. Und wenn wir jemanden besuchten, nahmen wir einen Karren Holz mit. Statt Blumen sozusagen.

Schule gab es noch nicht. Aber ein Mitschüler hatte Privatunterricht bei Fräulein Mathilde Langenberg, Jahrgang 1874. Sechzig Jahre später war sie als Lehrerin an der fortschrittlichen Versuchsschule Telemannstraße wegen ihrer SPD-Zugehörigkeit zwangspensioniert worden, hatte in ihrer Wohnung, Heußweg 98, einen Unterricht in zwei Klassen aufgezogen. Eine Klasse morgens, eine nachmittags. Schulgeld 1,50 RM pro Woche. Und wir lernten wohl ganz eifrig. Als im Oktober 1945 dann die Schulen ihren Betrieb wieder aufnahmen, endete dieser Privatunterricht natürlich ziemlich schnell. Aber ich blieb noch. Konnte ja nicht schaden. Und als nach einem Jahr zusätzlicher Unterricht nicht mehr nötig war, fing ich an, bei ihr schon mal Latein zu lernen. Das sollte ja in der 7. Klasse ohnehin kommen. Frühstart einmal die Woche. Donnerstags. Bezahlen musste ich alsbald nichts mehr, dafür brachte ich immer einen Korb Holz für ihre „Kochhexe“, eine Art Primitivst-Ofen, mit.

Der reguläre Unterricht fand zunächst in der Ausweichschule in der Bismarckstraße statt. Eines Tages bekamen wir einen neuen Schüler, der uns von unserem Schulleiter Dr. Strempel höchstpersönlich vorgestellt wurde. Rothaarig. Schon schlecht. Jüdisch. Aus dem KZ Theresienstadt. Na, das hatte uns gerade noch gefehlt. Der bei uns, die wir doch noch immer irgendwie beleidigt waren, daß man uns nicht hatte siegen lassen! Und die mit Demokratie noch nicht recht etwas anzufangen wussten. Die wir doch alle im Jungvolk gewesen waren und vor noch nicht allzu langer Zeit gelernt hatten, daß die Juden unser aller Unglück seien. „Mobbing“, den Ausdruck gab es damals noch nicht. Aber wir praktizierten es schon mal gegenüber diesem Jungen. Der hatte nichts zu lachen. Eines Tages war er verschwunden. In die SBZ, die Sowjetische Besatzungszone, geflüchtet. Wir wurden von Dr. Strempel fürchterlich zusammengestaucht. Aber beeindruckt hatte uns das nicht.

Auf dem Sportplatz gegenüber unserer „richtigen“ Schule, also auf dem Sparbier-Platz, veranstalteten die britischen Besatzungssoldaten Motorrad-Rennen, sog. Dirt Track-Rennen. Engste Kreise, ein Fuß zum Abstützen auf dem Boden. Der Dreck flog uns nur so um die Ohren. Aber derartige Veranstaltungen, die wir bisher gar nicht kannten, machten uns die Besatzer richtig sympathisch. Später gab es sogar Motorradrennen im Stadtpark. Auch deutsche Fahrer waren da zugelassen. Schorsch Meyer auf BMW 500 Kompressor. Über 200 Stundenkilometer konnte er damit schaffen! Hängte jeden Engländer ab. Na also!

Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher Göring & Co. Dönitz dabei. Das war ja unerhört! Der war doch Soldat und somit schon allein deswegen kein Verbrecher? Und wieso Hans Fritzsche? Wegen der paar Reden, die er als zweiter Mann in Goebbels Propagandaministerium halten musste? Schacht? Naja, der war unsympathisch. Und erst von Papen. Aber sonst? Rundfunkübertragungen aus dem Gerichtssaal. Ha, wie Göring sich verteidigte. Der redete die Anklage ja geradezu gegen die Wand! Ein Reporter, ich meine, er hieß Zimmermann, war besonders engagiert. Höchst unbeliebt bei uns. Eines Tages war er abgelöst: Es hatte sich herausgestellt, daß er gar nicht der große Nazi-Gegner war, als den er sich ausgegeben hatte, sondern im Gegenteil selbst handfester Nazi. Das war ja zum Brüllen komisch! Hatte der doch die Siegerjustiz wochenlang an der Nase herumgeführt.

Bei der Urteilsverkündung wurde jeder Freispruch und jedes Urteil, das nicht „death by hanging“ lautete, mit Freude und Genugtuung aufgenommen. Nein – alle diese Vorwürfe waren unerhört. Unsere Leute waren doch keine Mörder! Es hat lange, sehr lange gedauert, bis die Bevölkerung endlich begriff – wir hatten eine Verbrecherregierung gehabt. Allerdings: „Aber nun muß endlich mal Schluss sein!“ Dieser Satz fiel schon 1945/46. Er fällt noch heute, rund 60 Jahre danach. Und ich denke, zu oft von Leuten, die sich nie wirklich mit unserer Vergangenheit auseinandergesetzt haben.